„Meine chinesische Großmutter“ von Lars Saabye Christensen, erschienen am 12. Juni 2024, ist ein tiefgründiger und persönlicher Roman, der sich auf eine faszinierende Spurensuche in die Familiengeschichte des Autors begibt. Im Mittelpunkt steht die Geschichte seiner Großeltern väterlicherseits, die Anfang des 20. Jahrhunderts von Dänemark nach Hongkong aufbrachen. Besonders im Fokus ist seine Großmutter, eine junge Frau aus Kopenhagen, die allein und unter riskanten Bedingungen eine lange und beschwerliche Seereise nach Hongkong unternahm. Die Frage, warum sie sich auf diesen gefährlichen Weg gemacht hat, zieht sich wie ein roter Faden durch den Roman.
Hongkong, zu dieser Zeit ein vibrierender Handelsplatz und kultureller Schmelztiegel, war bereits zuvor das Ziel von Jørgen Christensen, dem Großvater des Autors. Jørgen arbeitete für die Svitzers Bjergnings-Enterprise, die älteste Seerettungs- und Bergungsgesellschaft der Welt. In dieser exotischen und kolonial geprägten Umgebung versuchten Jørgen und seine Frau, sich ein Leben aufzubauen, fernab ihrer dänischen Heimat. Der Roman beleuchtet dabei nicht nur die Herausforderungen und Erlebnisse der Großeltern, sondern auch die damaligen gesellschaftlichen und kulturellen Bedingungen, die den Alltag in dieser fernöstlichen Kolonie prägten.
Für Lars Saabye Christensen beginnt die Entdeckung dieser Geschichte erst viele Jahre später, als sein eigener Vater auf dem Sterbebett liegt. Dieser entscheidende Moment in seinem Leben bringt ihn dazu, Fragen zu stellen, die er sich zuvor nicht getraut hatte: Wie sah das Leben seiner Großeltern im fernen Osten aus? Warum entschieden sie sich, ihre Heimat zu verlassen? Und welche Spuren hinterließ diese Zeit in ihrer Familie? Der Autor begibt sich auf eine Spurensuche, die reich an historischen Details ist und zugleich viele überraschende Wendungen bereithält.
Christensen geht akribisch vor und stützt seine Recherche auf die wenigen verfügbaren Quellen, die das Leben seiner Vorfahren dokumentieren. Doch der Roman ist nicht nur eine reine Faktensammlung, sondern ein literarisches Werk, das mit viel Wärme, Einfühlungsvermögen und Wehmut geschrieben wurde. Der Autor versteht es, das historische Leben seiner Großeltern so darzustellen, dass es gleichzeitig lebendig und berührend wirkt. Der Leser wird in eine längst vergangene Welt entführt, die voller Gegensätze ist: zwischen Ost und West, zwischen Tradition und Moderne, zwischen kollektiver Geschichte und individueller Erfahrung.
Besonders die Figur der Großmutter, die mutig allein nach Hongkong aufbricht, ist beeindruckend. Sie steht im Mittelpunkt einer Erzählung, die von Ungewissheit, Tapferkeit und der Suche nach einem besseren Leben geprägt ist. Ihre Geschichte ist nicht nur die einer einzelnen Frau, sondern symbolisiert die Erfahrungen vieler Menschen, die in der Kolonialzeit ihr Heimatland verließen, um an fernen Orten ein neues Leben zu beginnen.
Im Verlauf des Romans entfaltet sich eine tiefe Reflexion über Identität und die Bedeutung von Herkunft. Für den Autor wird die Erforschung seiner Familiengeschichte zu einer Reise zu sich selbst. Die Geschichten seiner Großeltern sind eng mit seiner eigenen Identität verbunden, und je mehr er über sie herausfindet, desto mehr erkennt er, wie stark ihre Entscheidungen und Erlebnisse das Leben nachfolgender Generationen beeinflusst haben. Der Roman stellt damit die Frage, inwiefern wir durch unsere Familiengeschichte geprägt werden und wie wichtig es ist, diese Wurzeln zu verstehen, um uns selbst besser zu begreifen.
Lars Saabye Christensen ist für seinen besonderen Erzählstil bekannt, und auch in diesem Werk zeigt sich seine literarische Meisterschaft. Mit viel Feingefühl und einer Mischung aus Humor und Melancholie beschreibt er die Geschichte seiner Familie und die Zeit, in der sie lebte. Obwohl der Originaltext in Norwegisch und Dänisch verfasst wurde und einige sprachliche Feinheiten in der deutschen Übersetzung möglicherweise verloren gehen, bleibt der Kern der Erzählung kraftvoll und berührend. Die deutsche Ausgabe vermittelt ebenfalls die Wärme und Tiefe, die Christensens Stil so einzigartig machen.
„Meine chinesische Großmutter“ ist ein ruhiger, aber intensiver Roman, der den Leser auf eine emotionale Reise mitnimmt. Es ist eine Geschichte über Mut, Veränderung und die Verbindung zu den eigenen Wurzeln, die noch lange nachklingt. In einer Zeit, die oft von Hektik und Schnelllebigkeit geprägt ist, bietet dieses Buch eine Gelegenheit, innezuhalten und sich mit den grundlegenden Fragen des Lebens auseinanderzusetzen. Ideal zum Abschalten und Nachdenken, ist es ein Buch, das sowohl literarisch als auch emotional überzeugt und lange im Gedächtnis bleibt.
„Meine chinesische Großmutter“ ist ein bewegendes Buch, das mit Wärme und Tiefe eine faszinierende Familiengeschichte erzählt. Lars Saabye Christensens einfühlsamer Stil macht es zu einem echten Lesegenuss.
- Herausgeber : btb Verlag (12. Juni 2024)
- Sprache : Deutsch
- Gebundene Ausgabe : 224 Seiten
- ISBN-10 : 3442762758
- ISBN-13 : 978-3442762750
- Originaltitel : Min kinesiske farmor
- Abmessungen : 14 x 2.6 x 21.6 cm
- 350 Gramm
- 24 Euro