Stadtgeschichten von Armistead Maupin ist ein Roman, der seine Leser*innen mitten ins Herz des wilden, freigeistigen San Franciscos der Siebzigerjahre versetzt. Das Buch, das als Vorlage zur erfolgreichen Netflix-Serie Tales of the City diente, ist mehr als ein einfacher Roman: Es ist ein Zeugnis einer Zeit, die für das Aufbrechen gesellschaftlicher Normen und das Entstehen einer vielfältigen und offenen Lebensweise stand. Die Stadt am Pazifik bildet dabei die ideale Kulisse, in der die Grenzen zwischen konventionellen und unkonventionellen Lebensentwürfen verschwimmen und sich eine bunte Gemeinschaft entfaltet.
Die Geschichte beginnt mit Mary Ann Singleton, einer jungen Frau aus Cleveland, die während einer Reise spontan beschließt, in San Francisco zu bleiben. Mary Ann ist auf den ersten Blick eine eher zurückhaltende und konventionelle Person. Doch kaum hat sie sich in der berühmten Barbary Lane eingelebt, lernt sie die Freiheit und den Esprit der Stadt kennen. Anna Madrigal, die exzentrische Hausherrin der Barbary Lane 28, nimmt sie mit offenen Armen auf und gewährt ihr Einblicke in ein aufregendes, neues Leben. Anna ist eine Art mütterliche Figur für alle Bewohner*innen des Hauses und steht zugleich für das Geheimnisvolle und Rebellische der Stadt selbst. Mit einem Joint in der Hand und einer Umarmung für jede verlorene Seele sorgt sie dafür, dass sich alle, die in die Barbary Lane einziehen, ein Stück weit finden.
Neben Mary Ann und Anna porträtiert Maupin eine ganze Reihe weiterer Bewohnerinnen, deren Leben in den Geschichten miteinander verwoben werden. Da ist Mona, die kreative Freigeistin, die mit ihren Liebesbeziehungen und ihrer Suche nach Selbstverwirklichung ringt. Der charismatische Brian, ein Schürzenjäger mit immer neuen Affären, sucht nach einer tieferen Verbindung. Und Michael Tolliver, ein schwuler Mann, der in einer Zeit lebt, in der Homosexualität zwar immer sichtbarer, aber noch längst nicht gesellschaftlich akzeptiert ist. Durch sie alle entfaltet Maupin die Vielfalt und Lebendigkeit von San Francisco und zeigt, dass jeder nach dem ganz großen Glück sucht – auf manchmal chaotischen, aber umso lebensnaheren Wegen.
Stadtgeschichten ist nicht nur ein Roman über die Suche nach Glück und Identität, sondern auch ein Werk, das die sozialen und sexuellen Konventionen der Siebzigerjahre hinterfragt. Armistead Maupin geht in seinen Erzählungen mutig auf Themen wie Homosexualität, unkonventionelle Beziehungen und Selbstakzeptanz ein – und das zu einer Zeit, als dies noch kaum in der Literatur oder in den Medien sichtbar war. Maupins Stil ist erfrischend direkt und dabei von einer Warmherzigkeit und Humor geprägt, die seine Charaktere lebendig und liebenswert macht. Auch die Konflikte und Herausforderungen, mit denen sie sich auseinandersetzen, sind authentisch und nachvollziehbar dargestellt. Er zeigt, dass Schmerz, Freude, Verzweiflung und Liebe universelle Gefühle sind, die Menschen über alle Unterschiede hinweg verbinden.
Maupins Roman schafft es, das Lebensgefühl einer ganzen Ära einzufangen: die Abenteuerlust und der Aufbruchswille, die Offenheit und die kleinen Alltagsdramen, die San Francisco zur damaligen Zeit so besonders machten. Die Barbary Lane wird in Stadtgeschichten zum Symbol eines Zufluchtsorts für Menschen aller sexuellen Orientierungen und sozialen Hintergründe – und das macht diesen Roman auch heute noch so aktuell und bedeutend. Seine Figuren verkörpern den Mut zur Vielfalt und den Wunsch, sein Leben so zu gestalten, wie man es selbst für richtig hält, unabhängig von gesellschaftlichen Erwartungen.
Diese Erzählungen haben sich zu einer wahren Sittenkomödie entwickelt, die zugleich zum Nachdenken anregt und ihren Leser*innen ein Gefühl von Zugehörigkeit vermittelt. Stadtgeschichten ist ein Roman für alle, die das Besondere im Alltäglichen suchen, und für alle, die wissen möchten, wie es sich anfühlt, frei und ungezwungen zu leben. So wird der Roman zu einer Einladung, sich auf die kleinen und großen Abenteuer des Lebens einzulassen, genauso wie Mary Ann es tut, die letztlich ihre Heimat in der Barbary Lane und ihrer vielfältigen Gemeinschaft findet.
Mit Stadtgeschichten ist Armistead Maupin ein zeitloses Werk gelungen, das auch heute noch Leserinnen in seinen Bann zieht und mit seiner Wärme und Offenheit begeistert. Es ist eine Geschichte über das Zusammenleben, das Verständnis und die Toleranz – Werte, die Maupin damals wie heute zu einem einnehmenden und unvergesslichen Erlebnis für alle Leserinnen machen.
- Herausgeber : Rowohlt Taschenbuch; 1. Auflage, Überarbeitete Neuausgabe (16. April 2024)
- Sprache : Deutsch
- Taschenbuch : 384 Seiten
- ISBN-10 : 3499014513
- ISBN-13 : 978-3499014512
- Originaltitel : Tales of the City
- Abmessungen : 12.6 x 2.8 x 19.1 cm