/ Dezember 28, 2022/ Ratgeber

Dieses Buch wurde von einer Vereinigung herausgegeben, die von Eltern von behinderten Kindern gegründet wurde und seit über 30 Jahren dafür kämpft, dass behinderte und nicht behinderte Kinder zusammen leben und lernen können. Die Kapitel enthalten Fachbeiträge, die auf einer Tagung basieren, die die Vereinigung zusammen mit einer Hochschule durchgeführt hat. Der Journalist Volker Hütte hat auch Interviews mit Menschen dazu beigesteuert, die sich mit der Anwendung von Kinderrechten beschäftigen. Am Ende des Buches gibt es Auszüge aus internationalen Konventionen über Kinderrechte und die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Das Buch richtet sich hauptsächlich an Eltern, die über ihre Rechte und Möglichkeiten informiert werden sollen, aber auch an Experten in Behörden und Schulen sowie an politisch Verantwortliche.

Die Rechte von Kindern mit Behinderungen werden durch die Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen und die Behindertenrechtskonvention festgelegt. Diese Konventionen sind Teil der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 und Deutschland hat sie 2009 ratifiziert. Das bedeutet, dass Deutschland sich verpflichtet hat, ein inklusiveres Bildungssystem zu schaffen, das für alle Kinder, auch für Kinder mit Behinderungen, geeignet ist. Einige Experten sagen, dass diese Verpflichtungen auch individuelle Rechte für Kinder mit Behinderungen bedeuten, die einklagbar sind, obwohl es in Deutschland in diesem Bereich noch widersprüchliche Gerichtsentscheidungen gibt. Einige Leute kritisieren das Bewertungssystem in deutschen Schulen, weil es nur auf die Anforderungen des Arbeitsmarktes ausgerichtet ist und die musischen, interpersonellen und sozialen Aspekte von Intelligenz vernachlässigt. Sie sagen, dass dies eine Verletzung der Rechte jedes einzelnen Kindes ist, das unter dieser einseitigen Selektion leidet.

Das im Werk enthaltene Kapitel behandelt die Auswirkungen von medizinischer Perinataldiagnostik auf die psychische und soziale Entwicklung von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen. Es wird argumentiert, dass viele Eltern, Fachleute und Verantwortliche in sozialen und pädagogischen Institutionen immer noch von einer traditionellen Einstellung geprägt sind, die Behinderung als Defizit betrachtet und durch eine einseitig am medizinischen Modell von Behinderung orientierte Diagnostik gefördert wird. Eine andere Sichtweise, die Behinderung als politisches Thema betrachtet und damit die Vielfalt des Menschen akzeptiert, könnte dagegen zur Vermeidung von Vorurteilen und zur Öffnung neuer Entwicklungschancen für Kinder, die früher als „geistig behindert“ betrachtet wurden, beitragen. Es wird auch darauf hingewiesen, dass negative Zuschreibungen und Diskriminierungserfahrungen die Entwicklung eines positiven Selbstbildes erschweren und daher häufig eine psychosoziale Beratung erforderlich ist, um Unsicherheit und Resignation zu vermeiden. Es wird auch darauf hingewiesen, dass Sondereinrichtungen manchmal dazu beitragen, das Selbstbewusstsein von Menschen mit Behinderungen zu schädigen.

Brigitte Schumann bestätigt die negative Wirkung von Sonderschulen auf das Selbstbewusstsein von Kindern. Ihre Befragung von Schülern und Eltern hat ergeben, dass der Besuch dieser Schule häufig aus Scham verschwiegen wird. Schumann hält die damit verbundene Schädigung des Selbstkonzeptes für unvereinbar mit der in der BRK geforderten Anerkennung der Würde von Menschen mit Behinderungen als eigenständige Persönlichkeiten. Im Beitrag „Inklusion von Anfang an“ stellt Traudel Hell den von Tony Booth, Mel Ainsow und Denise Kingston in England entwickelten und 2006 von der GEW in deutscher Version herausgegebenen „Index für Inklusion“ vor, der in den Dimensionen

  • A) Inklusive Kulturen entfalten,
  • B) Inklusive Leitlinien etablieren und
  • C) Inklusive Praxis entwickeln

eine umfassende Anleitung für Kindertageseinrichtungen anbietet, sich auf eine inklusive Pädagogik umzustellen. Laut einer Umfrage der GEW ist dieser Index den meisten Einrichtungen bekannt, wird aber bisher nur von wenigen intensiv genutzt. Nach Irmtraud Schnell führt die herrschende Vorstellung von Normalität zu Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen, indem Beeinträchtigungen als Defizite betrachtet werden und somit die Ausgrenzung und Einschränkung von Bildungschancen fördert. Trotz positiver Erfahrungen mit inklusivem Unterricht auf nationaler und internationaler Ebene sowie neurobiologischer und psychologischer Erkenntnisse über die positive Wirkung von Heterogenität auf das Lernen, konnte diese Vorstellung bisher nicht nennenswert erschüttert werden. Schnell glaubt, dass eine wesentliche Ursache dafür darin liegt, dass es nach wie vor großes Interesse gibt, das Schulsystem zur Reproduktion der Klassengesellschaft zu nutzen. Veränderungen seien nur möglich, wenn die Schule sich nicht darum kümmert, ob ein Kind zu ihr passt, sondern sich stattdessen an den Bedürfnissen der Schülerinnen und Schüler orientiert.

Martina Buchschuster sagt, dass es in den Gesetzen der Schulen in den Bundesländern immer noch erforderlich ist, dass Kinder mit Behinderungen vor dem Besuch einer normalen Schule eine „Feststellung eines sonderpädagogischen Förderbedarfs“ bekommen müssen. Sie findet dies sowohl aus rechtlichen Gründen (das Gesetz gegen Diskriminierung verbietet dies) als auch aus pädagogischen Gründen fragwürdig. Sie meint, dass die Inklusion (dass alle Kinder zusammen in einer Schule lernen) und die Begutachtung bestimmter Schülergruppen nicht zusammenpassen, weil es von der für alle Schüler verlangten Diagnostik abweicht.

Sie findet es auch nicht in Ordnung, dass der Besuch einer normalen Schule aus Mangel an Ressourcen verweigert wird. Sie sagt, dass diese Ressourcen genügend vorhanden sind (wie das Sonderschulsystem zeigt), aber dass der Zugang durch schulrechtliche Vorschriften verhindert wird.

Am Ende des Kapitels gibt es ein Interview mit dem Leiter der Grundschule Berg Fidel in Münster, Reinhard Stähling. Diese Schule erfüllt alle Forderungen, die in den vorherigen Beiträgen aufgestellt wurden: Sie nimmt alle Kinder aus ihrer Umgebung (einem sozialen Problemgebiet) auf und muss deshalb nur wenig Diagnostik machen. Das ist möglich, weil alle Grundschullehrer, Sonderpädagogen und Erzieher gleichmäßig auf alle Klassen verteilt werden, ohne dass vorher ein besonderer Förderbedarf festgestellt wurde. Durch die jahrgangsübergreifende Zusammensetzung der Klassen werden alle Kinder individuell gefördert. Es gibt kein Zurückbleiben mehr.

Für die Zukunft des deutschen Schulsystems wünscht sich Stähling „eine Schule von der Kita bis zum Abitur in einem Gebäude und unter einer Leitung“ (S. 149). Er möchte auch, dass alle Sonder- und weiterführenden Schulen abgeschafft werden.

Freizeit und Inklusion

In diesem Kapitel wird über die Inklusion im Jugendamt der Stadt München gesprochen. Es wird auch über Sport und Pfadfinderschaft gesprochen. Rainer Seel, der sich mit Integrationssport befasst, sagt, dass Freizeitsportarten wie Natur- und Abenteuererlebnisse, Tanz oder Zirkusnummern gut für inklusive Gruppen sind. Integrationssport ist nicht sehr verbreitet, weil Menschen mit Behinderungen Sport lieber in Gruppen mit Gleichaltrigen machen. Das gilt besonders für den Leistungssport wie die Paralympics. Rainer Seel sagt, dass das Haupthindernis für mehr inklusive Angebote das Fehlen von Ressourcen und die Angst vor Behinderungen ist. Clemens Dannenbeck und Christa Schmidt sagen, dass das Jugendamt München mit der Hochschule Landshut Leitlinien für die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen mit und ohne Behinderung gemacht hat. Das Ziel dieser Leitlinien ist, dass alle Kinder und Jugendlichen an Aktivitäten teilnehmen können. Während dieser Leitlinien gemacht wurden, wurden auch Modellprojekte durchgeführt und von einem Netzwerk für Inklusion begleitet. Jörg Duda vom Referat für Behindertenarbeit der Deutschen Pfadfinderschaft Sankt Georg sagt, dass inklusive Gedanken schon immer Teil der Grundsätze der Pfadfinderschaft waren. Der Gründer der Pfadfinderschaft, Lord Baden-Powell, hat schon früh die Berücksichtigung von individuellen Eigenschaften verlangt. Deshalb gibt es schon seit den 1960er Jahren gemeinsame Aktivitäten von behinderten und nichtbehinderten Kindern und Jugendlichen in der Pfadfinderschaft.

Vom Kind zum Erwachsenen

Die Autoren beschreiben, wie es für Kinder und Jugendliche mit Lernschwierigkeiten ist, wenn sie älter werden und sich mit Themen wie Pubertät und Sexualität auseinandersetzen müssen. Eine Person namens Verone Schöninger meint, dass es für Kinder mit Behinderungen schwieriger ist, älter zu werden, weil sie sich mehr um sich selbst kümmern müssen und weniger Unterstützung von anderen bekommen. Petra Winkler von Pro Familia Berlin möchte, dass Sexualität etwas ist, das Menschen frei und ohne Angst ausleben können. Sie sagt auch, dass es besonders wichtig ist, dass Kinder und Jugendliche mit eingeschränkten intellektuellen Fähigkeiten gut über Sexualität aufgeklärt werden, weil sie sonst nicht so viel lernen können wie andere Kinder. In dem Text wird auch über Themen wie den Schutz vor sexueller Gewalt und den Kinderwunsch und die Elternschaft von Menschen mit Behinderungen gesprochen. Dabei wird darauf hingewiesen, dass es in diesen Bereichen oft Vorurteile gibt und dass nicht überall genug Unterstützung vorhanden ist.

Das Interview am Ende handelt von Theresia Degener, die für Deutschland an den Verhandlungen der UN-BRK teilgenommen hat. Degener sagt, dass seit der Ratifizierung der BRK im Jahr 2009 Behinderung in Deutschland als Menschenrechtsproblem betrachtet wird, anstatt nur als medizinisches oder soziales Problem. Das bedeutet, dass Menschen mit Behinderungen nicht mehr von anderen betreut werden müssen, sondern selbstbestimmt handeln können. Es bleibt jedoch abzuwarten, ob diese Veränderung in Gesetzgebung und Verwaltungspraxis umgesetzt wird. Es gibt Skepsis, da im Ratifizierungsgesetz steht, dass sich in Deutschland nur wenig ändern muss.

Der Inklusionsdiskurs beschäftigt sich mit dem Thema, wie Menschen mit Behinderungen in unsere Gesellschaft integriert werden können. Es gibt verschiedene Ansätze, wie diese Integration gelingen kann, aber manchmal gibt es auch Widerstände gegen diese Ansätze. Im außerschulischen Bereich, also außerhalb von Schulen, gibt es weniger Widerstände, aber manchmal fehlen die Ressourcen, um inklusive Angebote für alle zu schaffen. Auch in Kindergärten gibt es Bemühungen für Integration und Inklusion, aber es gibt noch viel zu tun, weil nur ein Viertel der Kindergärten als inklusive Einrichtungen gelten. Die größten Widerstände gibt es in Schulen, weil hier nicht nur bestehende Denkweisen verändert werden müssen, sondern auch Eltern, die Privilegien für ihre Kinder wollen, einer inklusiven Veränderung im Schulsystem entgegenstehen. Inklusion in der Schule würde bedeuten, ein einheitliches Bildungssystem ohne diskriminierende Maßnahmen wie das Sitzenbleiben oder die Überweisung in Sonderschulen für alle Schüler zu schaffen. Es gibt jedoch auch Beispiele von Schulen, an denen Inklusion erfolgreich umgesetzt werden kann.

Das Buch ist gut für Eltern und Menschen in sozialen und pädagogischen Institutionen, weil es ihnen wichtige Ideen für Veränderungen in ihrer Arbeit gibt. Es zeigt positive Beispiele, aber auch die Schwierigkeiten. Die Kombination von Fachartikeln und Interviews ist gut, besonders wenn betroffene Eltern über ihre eigenen Erfahrungen sprechen und die Theorien unterstützen. Die Qualität der einzelnen Beiträge ist nicht immer gleich, aber insgesamt ist das Buch interessant und hilft, über Dinge nachzudenken und selbst Handlungen zu setzen.

  • Herausgeber ‏ : ‎ Mabuse-Verlag; 1. Aufl. Edition (20. Juli 2012)
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Taschenbuch ‏ : ‎ 222 Seiten
  • ISBN-10 ‏ : ‎ 3940529699
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3940529695
  • Abmessungen ‏ : ‎ 14.6 x 1.7 x 21 cm

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