
Der Roman „Blinde Geister“ von Lina Schwenk, nominiert für den Deutschen Buchpreis 2025, erzählt eine bewegende Familiengeschichte, die vom Nachkriegsdeutschland bis in die Gegenwart reicht. Im Mittelpunkt steht Olivia, die als Tochter von Rita und Karl in den 1950er-Jahren aufwächst. Deutschland ist damals friedlich, doch die Spuren des Krieges sind noch überall spürbar – in den Köpfen der Erwachsenen, in ihren Ängsten und in kleinen täglichen Ritualen.
Olivia lebt in einer Familie, die geprägt ist von Sorgen und Vorsicht. Karl, ihr Vater, überprüft immer wieder die Lebensmittelvorräte und baut in der Fantasie seiner Kinder Schutzmaßnahmen auf, als stünde ein neuer Krieg unmittelbar bevor. Der Lehrer zwingt die Kinder im Turnunterricht durch selbst gebaute Schützengräben zu kriechen. Für Olivia und ihre Schwester Martha sind diese Handlungen zunächst ein Spiel – eine Art Spiel, das sie still mitmachen, weil die Eltern keine Worte finden, um ihre Ängste zu erklären. Das Schweigen der Erwachsenen wirkt oft lauter als jede Erklärung.
Im Laufe ihres Lebens merkt Olivia, wie sehr sie von den Erfahrungen und Ängsten einer ganzen Generation geprägt ist, die niemals laut hoffen oder ihre Traumata offen zeigen konnte. Diese Ängste schleichen sich unbemerkt in ihr eigenes Denken, und auch sie beginnt, sich ständig auf Bedrohungen vorzubereiten. Selbst als Erwachsene trägt Olivia die Spuren der Kindheit in sich – das Gefühl, dass jederzeit etwas Schlimmes passieren könnte.
Doch Olivia sucht nach Möglichkeiten, sich von dieser Last zu lösen. Sie versucht, die Erinnerungen und Sorgen der älteren Generation zu verstehen, ohne selbst daran zu zerbrechen. Auf ungewöhnlichen und manchmal skurrilen Wegen sucht sie nach Freiheit von den unsichtbaren Fesseln, die die Vergangenheit auf ihr Leben gelegt hat. Dabei wird klar, wie schwer es ist, die eigene Familie zu schützen, aber gleichzeitig Abstand zu gewinnen, um sich selbst zu bewahren.
In ihrem ersten eigenen Zuhause fehlt Olivia der Keller, der in ihrer Kindheit ein kleiner Schutzraum und ein Ort der Familienzeit war. Dieser Keller, Symbol für Sicherheit und Zusammenhalt, fehlt ihr im Erwachsenenleben. Gleichzeitig erkennt sie die langen Risse, die sich von den Erfahrungen ihrer Eltern durch ihre eigene Generation ziehen. Besonders deutlich wird dies, als Olivia versucht, ihre eigene Tochter vor ähnlichen Ängsten zu bewahren. Die Bedrohungsgefühle, die früher in harmlosen Kinderspielen steckten, erscheinen nun wieder erschreckend real, weil neue Konflikte in Europa aufkeimen.
Der Roman zeichnet sich durch eine tiefe Sensibilität für menschliche Ängste und Familienstrukturen aus. Lina Schwenk gelingt es, das Nachkriegsdeutschland lebendig zu machen und gleichzeitig die inneren Welten ihrer Figuren eindringlich zu zeigen. Sie beschreibt nicht nur die Sorgen der Eltern, sondern auch das Erleben der Kinder, die zwischen Spielen, Gehorsam und dem stillen Verstehen der Erwachsenen navigieren. Die Vergangenheit wirkt in jeder Handlung nach, und die Autorin zeigt, wie Generationen miteinander verbunden sind – durch Ängste, Schweigen, Schutzversuche und die Sehnsucht nach Sicherheit.
„Blinde Geister“ behandelt die Frage: Wie kann man die eigene Familie schützen, ohne sich selbst zu verlieren? Olivia muss lernen, dass Schutz nicht nur aus Vorsicht oder Vorbereitung besteht, sondern auch aus der Fähigkeit, loszulassen und die eigenen Grenzen zu erkennen. Der Roman ist vielschichtig und berührend, weil er die Spuren der Geschichte in den Menschen sichtbar macht und gleichzeitig das Sonderbare und Entrückte im Alltag beleuchtet.
Mit feinem Gespür für psychologische Details, historische Hintergründe und die kleinen, oft skurrilen Momente des Familienlebens gelingt es Lina Schwenk, eine Geschichte zu erzählen, die Zeitgeschichte und persönliche Entwicklung miteinander verbindet. Leserinnen und Leser erleben, wie Ängste weitergegeben werden, wie sie sich verändern lassen und wie Mut, Verständnis und Fürsorge helfen können, sich von den unsichtbaren Fesseln der Vergangenheit zu befreien.
„Blinde Geister“ ist ein Buch über Familie, Schutz, Freiheit und Verantwortung, über die unsichtbaren Erbschaften der Vergangenheit und über den langen Weg, die eigene Identität zu finden, ohne die Wurzeln zu verlieren.
- Herausgeber : C.H.Beck
- Erscheinungstermin : 14. Oktober 2025
- Auflage : 3.
- Sprache : Deutsch
- Seitenzahl der Print-Ausgabe : 191 Seiten
- ISBN-10 : 3406837042
- ISBN-13 : 978-3406837043
- Abmessungen : 12.7 x 2 x 20.6 cm
- 24 Euro