/ November 24, 2023/ Biografien, Jugendbücher

Ersin Karabulut, Christoph Haas

Der türkische Illustrator Ersin Karabulut präsentiert zeitgleich einen autobiografischen Comic, der die Ära von Erdoğan nicht in einem positiven Licht darstellt: „Das Tagebuch der Unruhe“

Die Darstellung der Türkei durch Ersin Karabulut ist keineswegs glorreich. Die gezeichneten Menschen haben auffallend große Augen und herausstehende Zähne – ständig in Sorge, von anderen beobachtet zu werden. Ein Beispiel hierfür ist, als der junge Ersin in den 80er-Jahren Bier für seinen Vater vom Kiosk holen soll. Sein Vater mahnt ihn, darauf zu achten, dass die Flaschen nicht aneinander stoßen.

Das Trinken von Bier ist in der Türkei nicht verboten, aber unter religiösen Muslimen wird es missbilligt. Die Spannungen zwischen religiösen und säkularen Türken waren bereits damals stark ausgeprägt. Der junge Ersin ist sich dessen noch nicht bewusst und ist so stolz darauf, die Flaschen ohne Klirren zu tragen, dass er stolpert und das Bier vor der Tür eines Mullahs verschüttet.


Humor hat in der Türkei eine langjährige Tradition, berichtet Ersin Karabulut, die sogar älter ist als das Osmanische Reich. Bereits im 14. Jahrhundert existierten satirische Zeichnungen. Satiremagazine prägten jahrzehntelang die Subkultur. Karabulut betont, dass Humor eine starke Kraft ist, die sich nicht kontrollieren lässt. Deshalb mögen starke Führer keinen Humor.

Neben humorvollen Alltagsbeschreibungen integriert Ersin Karabulut immer wieder historische Exkurse in einem naturalistischen Stil. So erzählt er von Mustafa Kemal Atatürk, der die Türkei von westeuropäischem Einfluss befreite und die Türkische Republik als säkulare Demokratie gründete. Auch die Bedrohung seines Vaters Ende der 70er-Jahre durch rechtsradikale Türken und der Mord an dessen bestem Freund werden thematisiert. Die Brutalität der verfeindeten Lager war so groß, dass das Militär die Regierung übernahm, um für Ordnung zu sorgen. Später schien Recep Tayyip Erdoğan stark genug zu sein, um die verschiedenen türkischen Lager zu vereinen.

Karabulut hat den Comic für ein europäisches Publikum geschaffen, um zu vermitteln, dass die Türkei ein vielschichtiges Land ist, nicht so östlich wie der Iran, aber auch nicht wie Griechenland. Er zeichnet ein Bild einer verwirrten Gesellschaft, die sich nicht eindeutig positionieren kann, ob im Westen oder im Osten.

Ersin Karabulut selbst wird von westlichen Werten geprägt, wächst mit ihnen auf und hat eine Affinität zu westlichen Comic-Helden wie Asterix, Lucky Luke und Superman. Bereits als Kind zeichnet er diese Figuren immer wieder. Als Erwachsener beeinflusst die Erinnerung an diese Comic-Helden seine Arbeit als politischer Zeichner, selbst als ihm deswegen rechtliche Konsequenzen drohen. Diese Helden erinnern ihn an seine Grundwerte: sich für die Schwachen einzusetzen, auch wenn der Gegner scheinbar übermächtig ist. In seinem Comic „Tagebuch der Unruhe“ präsentiert er eine Realität in der Türkei, die normalerweise nicht in den Nachrichten zu sehen ist.

Ein exemplarisches Beispiel ist die Darstellung der Satirezeitschriften. Ersin Karabulut hat für die Satirezeitschrift „Penguen“ gearbeitet. Diese wurde aufgrund ihrer scharfen Kommentare von der AKP-Regierung unter Erdoğan wiederholt verklagt und ist mittlerweile eingestellt. Das erste Mal wurde „Penguen“ im Jahr 2005 vor Gericht gezerrt, weil das Magazin sich solidarisch mit einem Zeichner zeigte, der Erdoğan als Katze dargestellt hatte und deshalb vor Gericht stand.

In der kommenden Ausgabe des „Penguen“ wurden Tierporträts von Erdoğan auf dem Titelblatt präsentiert. Eigentlich sollte Ersin Karabulut eines der Tiere zeichnen. Allerdings überwog die Furcht vor möglichen Konsequenzen, und er schob die Zeichnung auf, bis ein anderer Künstler die Aufgabe übernahm. Dieser Moment des Zögerns machte Karabulut deutlich, dass er es nie wieder hinnehmen wollte, wenn seine Meinungsfreiheit eingeschränkt wird.

Daher dient sein Comic auch als Warnung, dass die demokratischen Rechte, die man seit seiner Geburt kennt, sehr leicht wieder entzogen werden können. Ersin Karabulut integriert universelle Erkenntnisse in seine persönliche Geschichte der türkischen Republik. Dies tut er mit einer so beißenden Art von Humor, dass einem bisweilen das Lachen im Hals stecken bleibt.

Ersin Karabuluts „Das Tagebuch der Unruhe“ ist ein fesselnder autobiografischer Comic, der die Ära Erdoğans kritisch beleuchtet. Durch beißenden Humor und eindrucksvolle Zeichnungen enthüllt er eine Türkei abseits der Nachrichten. Die historischen Exkurse und Alltagsschilderungen bieten tiefe Einblicke in die komplexe türkische Gesellschaft. Karabuluts Mut, sich gegen Einschränkungen der Meinungsfreiheit zu stellen, spiegelt sich in seinem Werk wider. Die universellen Botschaften über Demokratie und Grundwerte machen den Comic für ein internationales Publikum zugänglich. Eine kraftvolle Warnung vor der Fragilität demokratischer Rechte und ein beeindruckendes Zeugnis persönlicher Integrität.

  • Herausgeber ‏ : ‎ Carlsen Comics; 1. Edition (24. Oktober 2023)
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Gebundene Ausgabe ‏ : ‎ 160 Seiten
  • ISBN-10 ‏ : ‎ 3551020949
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3551020949
  • Lesealter ‏ : ‎ Ab 12 Jahren
  • Abmessungen ‏ : ‎ 19.8 x 1.85 x 26.5 cm

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