
„Das Verschwinden des Holocaust“ von Jan Gerber ist eines dieser Bücher, die man aufschlägt und sofort merkt: Hier schreibt jemand, der wirklich etwas zu sagen hat. Nicht trocken, nicht akademisch abgehoben, sondern klar, verständlich und mit einer Ernsthaftigkeit, die einen sofort packt. Es ist kein Buch, das man einfach wegliest – es ist eins, das einen begleitet, nachhallt, wachrüttelt.
Gerber stellt Fragen, die sich viele zwar schon gedacht haben, aber selten so offen angesprochen werden: Warum wurde der Holocaust eigentlich erst spät, also ab den 1970ern, als das zentrale Verbrechen des Nationalsozialismus verstanden? Warum dauerte es so lange, bis die Welt – und auch Deutschland – wirklich hinschauen wollte? Und genauso wichtig: Warum scheint dieses Wissen heute wieder zu verblassen? Warum wird die Erinnerung brüchiger, leiser, manchmal sogar verdrängt?
Und genau hier überzeugt das Buch mit einer Mischung aus historischem Wissen und gesellschaftlichem Blick. Gerber zeigt, wie Erinnerung funktioniert – nicht im moralischen Sinne, sondern im ganz menschlichen. Erinnerung muss gepflegt, eingeordnet, weitergegeben werden. Sie ist nichts Statisches. Und genau deshalb ist sie auch so verletzlich. Er erklärt, wie politische Stimmungen, gesellschaftliche Trends, neue Generationen und kulturelle Veränderungen dazu beitragen können, dass etwas so Wichtiges langsam entgleitet oder neu gedeutet wird.
Dabei ist das Faszinierende: Gerber schreibt nicht belehrend. Man spürt, dass er nicht mit dem Finger zeigt, sondern verstehen will – und uns als Lesende mitnimmt. Er führt einen durch Zeiten, Debatten, blinde Flecken und Durchbrüche, ohne dass man sich je verloren fühlt. Das Buch liest sich wie ein Gespräch mit jemandem, der unglaublich viel weiß, aber trotzdem ganz nahbar bleibt. Er sagt nicht: „So ist es.“ Er fragt: „Warum ist es so geworden?“ Dieses Warum zieht sich wie ein roter Faden durch die Seiten – und genau das macht das Buch so stark.
Besonders spannend ist, wie er zeigt, dass Erinnerung an den Holocaust niemals selbstverständlich war. Dass sie erkämpft wurde – durch Überlebende, durch Forschende, durch Künstlerinnen und Künstler, durch Menschen, die lange ignoriert wurden. Und wie sich in den 1970ern plötzlich etwas veränderte: Filme, öffentliche Debatten, Gerichtsprozesse, gesellschaftliche Reifung. Dieses Zusammenspiel macht verständlich, wie die Erinnerungskultur entstand, die wir heute kennen.
Und dann kommt der zweite, sehr aktuelle Blick: Warum schwindet dieses Bewusstsein wieder? Gerber zeigt die sozialen und kulturellen Veränderungen, die dazu führen: digitale Schnelllebigkeit, globale Krisen, neue politische Spannungen, die Fragmentierung von Öffentlichkeit – all das beeinflusst, wie Gesellschaften erinnern. Und er macht klar: Das ist nicht einfach „Vergessen“. Es ist ein komplexer, oft ungewollter Prozess, der trotzdem gefährlich ist.
Was das Buch so besonders macht? Es gibt einem nicht das Gefühl von Hilflosigkeit. Im Gegenteil: Es zeigt, wie wichtig es ist, über Erinnerung nachzudenken – nicht nur rückblickend, sondern im Heute. Es regt an, selbst aktiv über Verantwortung und Geschichte nachzudenken, ohne je moralisch zu drücken. Man fühlt sich ernst genommen, nicht beschämt.
„Das Verschwinden des Holocaust“ ist ein kluges, waches, dringend notwendiges Buch. Eins, das hilft zu verstehen, warum Erinnerung so wichtig ist – und warum sie uns nicht einfach so bleiben wird, wenn wir uns nicht um sie kümmern. Ein Buch, das nicht nur informiert, sondern auch berührt, weil man spürt, wie viel daran hängt.
Kurz: Es ist ein Werk, das man gelesen haben sollte – nicht aus Pflichtgefühl, sondern weil es Augen öffnet. Und weil es zeigt, dass die Frage „Wie erinnern wir uns?“ letztlich immer auch die Frage ist: „Wer wollen wir sein?“
- Herausgeber : edition TIAMAT
- Erscheinungstermin : 25. August 2025
- Auflage : 1.
- Sprache : Deutsch
- Seitenzahl der Print-Ausgabe : 336 Seiten
- ISBN-10 : 3893203303
- ISBN-13 : 978-3893203307
- Abmessungen : 12.5 x 2.5 x 21 cm
