
Erzähl’s nicht deinem Bruder ist ein Roman, der leise beginnt und sich dann immer tiefer ins Herz und in die Gedanken schleicht. Meir Shalev erzählt eine Geschichte, die von außen betrachtet schlicht wirkt, sich aber Seite für Seite als vielschichtig, klug und emotional entpuppt. Ein Buch über Brüder, Erinnerungen und all das, was man sagt – und vor allem über das, was man eigentlich lieber für sich behalten würde.
Im Mittelpunkt stehen die Brüder Itamar und Boas. Itamar lebt in den USA, erfolgreich, charmant, ein Mann, dem das Leben scheinbar wohlgesonnen ist. Einmal im Jahr kehrt er nach Israel zurück, um Boas zu besuchen. Diese Treffen folgen einem festen Ritual: ein gemeinsamer Abend, Alkohol, Gespräche über früher, über die Eltern, über das, was war. Vertraut, fast schon tröstlich. Doch dieses Mal ist etwas anders.
Itamar beginnt zu erzählen. Von einer Nacht mit einer Frau, die ihm begegnet ist wie aus dem Nichts. Von einem Haus zwischen Olivenhainen, abgeschieden, fast zeitlos. Und von einer Begegnung, die ihn mehr berührt und verunsichert hat, als er es selbst erwartet hätte. Was zunächst wie eine außergewöhnliche Episode klingt, entwickelt sich zu einer Geschichte voller innerer Spannung, unausgesprochener Gefühle und feiner psychologischer Verstrickungen.
Meir Shalev erzählt diese Begebenheit ruhig und eindringlich zugleich. Es geht nicht um Sensation oder Provokation, sondern um das, was zwischen Menschen geschieht, wenn Nähe, Begehren, Einsamkeit und Sehnsucht aufeinandertreffen. Die Atmosphäre ist dicht, manchmal fast melancholisch, getragen von einer Sprache, die Bilder entstehen lässt und viel Raum für Zwischentöne lässt. Dank der sensiblen Übersetzung von Ruth Achlama entfaltet der Text auch auf Deutsch seine volle Kraft.
Besonders spannend ist das Verhältnis der beiden Brüder. Während Itamar erzählt, hört Boas zu – und zwischen den Worten entstehen Fragen, Spannungen und stille Vergleiche. Was verbindet Geschwister wirklich? Was trennt sie? Und wie sehr beeinflussen gemeinsame Erinnerungen, familiäre Rollen und alte Verletzungen das heutige Leben? Shalev zeichnet diese Beziehung mit großer Feinheit, ohne zu urteilen oder einfache Antworten zu geben.
Der Roman kreist um große Themen: Liebe und Begehren, Schönheit und Vergänglichkeit, Nähe und Distanz. Gleichzeitig geht es um Einsamkeit, um das Bedürfnis, gesehen zu werden, und um den inneren Widerstreit zwischen Vernunft und Gefühl. All das wird nicht laut ausgestellt, sondern entfaltet sich langsam, fast beiläufig – genau darin liegt die Stärke dieses Buches.
Erzähl’s nicht deinem Bruder ist kein Roman, den man hastig liest. Er lädt dazu ein, innezuhalten, Passagen noch einmal zu lesen und über das Gesagte – und Ungesagte – nachzudenken. Die Geschichte bleibt im Kopf, weil sie ehrlich ist, weil sie menschlich ist und weil sie zeigt, wie komplex Beziehungen sein können, selbst – oder gerade – innerhalb der Familie.
Ein stilles, intensives Buch für Leserinnen und Leser, die literarische Tiefe schätzen und Freude an psychologisch fein gezeichneten Figuren haben. Meir Shalev beweist hier einmal mehr, wie meisterhaft er Emotionen, Erinnerung und zwischenmenschliche Spannung miteinander verwebt. Ein Roman, der nachklingt – lange nachdem man die letzte Seite umgeschlagen hat.
- Herausgeber : Diogenes
- Erscheinungstermin : 20. August 2025
- Auflage : 1.
- Sprache : Deutsch
- Seitenzahl der Print-Ausgabe : 304 Seiten
- ISBN-10 : 3257247877
- ISBN-13 : 978-3257247879
- Originaltitel : Al tessaper leAchicha
- Abmessungen : 11.6 x 2.1 x 18.2 cm
- 15 Euro
