In seinem ersten Roman „Gleißendes Licht“ thematisiert der bekannte Komponist und Gitarrist Marc Sinan den Völkermord an den Armeniern und dessen Auswirkungen bis in die heutige Zeit hinein. Der Protagonist Kaan, der musikalisch talentierte Sohn eines deutschen Vaters und einer türkischen Mutter mit armenischen Wurzeln, besucht regelmäßig seine Großeltern am Schwarzen Meer. Die Geschichte wird in zahlreichen Zeitsprüngen erzählt, wobei das erste Kapitel mit einer beklemmenden Szene aus dem Jahr 1915 beginnt. Es folgen Episoden aus Kaans Kindheit, Jugend und Erwachsenenalter, unterbrochen von Rückblicken auf das Leben seiner Großeltern unter Atatürk.
Obwohl der Roman „Gleißendes Licht“ von Marc Sinan mit einer eindringlichen Erzählweise beginnt, wird das Lesevergnügen bald durch die zwiegespaltene Natur des Protagonisten Kaan getrübt. Kaan zeigt sich als nerviger, egozentrischer und übergriffiger Charakter, der suizidgefährdet ist und sich in Selbstmitleid suhlt. Doch im Verlauf der Handlung wird klar, dass Kaans Verhalten auf einem bisher unerkannten Trauma beruht, das auf die Lebensgeschichte seiner Großmutter Vahide zurückzuführen ist. Vahide entging als armenische Waise nur knapp dem Völkermord und wurde von einer muslimischen Familie aufgenommen. Ihr späterer Ehemann, Kaans Großvater, konnte durch die Vertreibung armenischer Familien erfolgreich Haselnüsse anbauen und vermarkten.
Der Text wird durch surreale Szenen, Traumsequenzen und Gewaltphantasien, die sich gegen die repressive Politik in der Türkei und ihren Präsidenten richten, interessant und anspruchsvoll. Eine zentrale Rolle spielt der Tepegöz-Mythos, der für Kaans Großvater alle Antworten auf die Fragen des Lebens bereithält. Diese Verbindung zwischen dem Mythos und dem Völkermord an den Armeniern sowie der gegenwärtigen Situation in der Türkei wird kritisch beleuchtet. Kaans Großmutter zeigt ihm, dass der Mythos eine Geschichte über nichtsnutzige Männer, Strafe, Rache, Hass und einen gottlosen Gott ist, die den Schmerz im Land nur verstärkt.
Im Buch fleht Kaans Großmutter ihn an, für sie Rache zu üben, jedoch auf eine nicht-gewalttätige Weise. Sie schlägt vor, Lieder zu singen, Geschichten zu erzählen, Rituale zu erfinden und in diesen Geschichten zu wüten, zu rächen, zu quälen, zu zerstören, zu verletzen und zu töten, um dann in der Wirklichkeit abzulassen und zu vergeben. Die Verzweiflung des Protagonisten, die Wahrheit über das erlittene Unrecht zu enthüllen und einen gangbaren Weg zu finden, um seine Großmutter und all die Ermordeten und Vertriebenen zu rächen, sowie sich und seine Tochter vom Trauma zu heilen, ist spürbar. Doch stellt sich die Frage, ob dies ohne Gewalt möglich ist, wenn die Täter das Verbrechen leugnen.
Letztendlich hofft der Text darauf, dass in der Türkei der Stolz, Türke zu sein, durch den Stolz, Mensch zu sein, ersetzt wird. Gleißendes Licht ist ein komplexer Roman, der aufgrund seiner surrealen Elemente, lyrischen Einschübe, mythologischen, historischen und politischen Bezüge sowie der zahlreichen Zeitsprünge keinen einfachen Zugang bietet. Der Leser muss sich auf die eigenwillige Textkomposition einlassen, die sprachlich und thematisch auf sehr unterschiedliche Art und Weise berührt. Insgesamt ist dies ein außergewöhnlicher, streckenweise sehr bewegender Debütroman zu einem wichtigen Thema gelungen. Allerdings ist die explizite Darstellung einiger gewalttätiger Szenen nichts für zartbesaitete Leser.
- Herausgeber : Rowohlt Buchverlag; 1. Edition (31. Januar 2023)
- Sprache : Deutsch
- Gebundene Ausgabe : 272 Seiten
- ISBN-10 : 3498003143
- ISBN-13 : 978-3498003142
- Abmessungen : 13.3 x 2.7 x 20.8 cm