/ März 4, 2023/ Romane, Sachbuch

Ich bin daran interessiert, die Gründe für die Schwäche der Zivilgesellschaft in Russland zu verstehen. Diese Frage hat mich beschäftigt, und ich habe bereits einige Bücher dazu gelesen. Nun gibt es ein neues Buch im Herder-Verlag mit dem Titel „Jenseits von Putin“, das sich ausführlich mit dieser Frage befasst. Die Autoren, Gesine Dornblüth und Thomas Franke, eine promovierte Slavistin und ein ehemaliger Moskauer Bewohner von 2012 bis 2017, versuchen, die Gründe für die Schwäche der Zivilgesellschaft in Russland zu erläutern.

Was mir an diesem Buch besonders gut gefallen hat, ist, dass es sich auf die individuellen Meinungen und Erfahrungen von Menschen konzentriert. Im Gegensatz zu vielen anderen Büchern, die sich auf die politische Ebene konzentrieren und sich auf Putin beziehen, betrachtet dieses Buch die Mikroebene und gibt normalen Menschen eine Stimme. Es untersucht, wie die Gesellschaft tatsächlich funktioniert, indem es sich auf individuelle Erfahrungen und Standpunkte konzentriert. Dieses Buch ist überfällig, da inzwischen weite Teile der russischen Bevölkerung den Krieg zu tolerieren oder sogar zu befürworten scheinen, aber es gibt keine nennenswerte Opposition, Antikriegsbewegung oder zivilgesellschaftlichen Widerstand. Das Buch von Dornblüth und Franke versucht, Erklärungen für dieses Phänomen zu finden. Ich werde im Folgenden nur einige ausgewählte Kapitel ansprechen, die mir persönlich wichtig erschienen, aber das Buch ist insgesamt sehr lesenswert und bietet viele interessante Einblicke.

In diesem Kapitel beschäftigen sich die Autoren mit der Frage, ob ein Machtwechsel in Russland durch gewaltfreien Widerstand möglich ist und beleuchten dabei verschiedene Hürden, die zivilgesellschaftliches Engagement behindern. Die Autoren betonen, dass die Opposition in Russland kaum Zugang zu landesweiten Massenmedien hat und dass das Parlament kein Ort für Debatten mehr ist. Es gibt nur noch sehr wenige Möglichkeiten für oppositionelle Bewegungen, um auf sich aufmerksam zu machen.

Ein weiteres Kapitel des Buches befasst sich hauptsächlich mit den Jugendorganisationen, die dem Kreml nahestehen. Diese Organisationen, wie beispielsweise die „Naschi“, ähneln dem früheren Komsomol, der Jugendorganisation der Kommunistischen Partei. Die „Naschi“ vermitteln ihren Mitgliedern eine patriotische Einstellung durch verschiedene Theorieseminare.Auch die „Molodaja Gwardia“, eine Jugendorganisation der Regierungspartei. Weiterhin erschließe die Organisation „Setj“ (dt. Netz) vor allem elitäre Zielgruppen. In ihr sammelten sich vor allem Designer, Graffiti-Sprayer, Bildhauer, Journalisten, Fotografen und Videokünstler. Nicht zuletzt existiere noch die „Junarmia“, die Junge Armee, die beim Kriegsministerium angesiedelt ist. Dort machten sich die jungen Leute mit Waffengattungen vertraut, trieben Kampfsport und übten schießen.

Die Autoren beschreiben auch, wie der Kreml zivilgesellschaftliches Engagement ablehnt und dass Putin den Widerstand gegen seine Regierung durch repressive Maßnahmen gebrochen hat. Die Bewegungen „Oborona“ und „Smena“ werden als Beispiele dafür genannt.

Die Autoren betonen, dass eine wichtige Gelegenheit im Jahr 2011 verstrichen ist, als rund 100.000 Menschen gegen die gefälschten Parlamentswahlen auf die Straße gegangen sind. Trotzdem gewähren sie Einblick in die schwierige Arbeit von Oppositionspolitikern, die z.B. Unterstützerunterschriften in sehr großer Anzahl benötigen, um überhaupt antreten zu dürfen.

Insgesamt machen die Autoren deutlich, dass die politische Situation in Russland für die Opposition sehr schwierig ist und dass es viele Hürden gibt, die zivilgesellschaftliches Engagement behindern. Trotzdem zeigen sie auf, dass es auch in schwierigen Zeiten Möglichkeiten gibt, um für Veränderungen einzutreten.

In Kapitel 6 geht es darum, ob die Russen den Krieg wollen und ihn unterstützen. Die Autoren erklären, dass die meisten Russen aufgrund ihrer Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg den Krieg als etwas Schreckliches ablehnen. Es gibt in Russland sogar ein geflügeltes Wort, das besagt: „Lisch by ne woina“ (zu Deutsch: „Bloß kein Krieg“).

Im Gegensatz zum Westen gab es in der Sowjetunion jedoch keine Antikriegsbewegung. Die Autoren stellen fest, dass die Russen oft erst dann vom Krieg sprechen, wenn sie selbst angegriffen werden. Sie verhalten sich wie Menschen, die gegen eine Naturkatastrophe machtlos sind.

Die Autoren kommen zu dem Schluss, dass die Bevölkerung in Russland nicht fanatisch, sondern eher apathisch und verängstigt ist.

Kapitel 7 handelt davon, dass viele Menschen in Russland unter der Zeit leiden, in der Stalin an der Macht war. Fast jede Familie in Russland habe in dieser Zeit Opfer erlebt, aber das Regime unter Putin versuche, die Vergangenheit zu verdrängen. Putin nutze die Ängste, die mit dieser Zeit verbunden seien, um seine Macht zu stärken.

Kapitel 9 beschäftigt sich mit dem Verhältnis zwischen Russland und der Ukraine. In der russischen Propaganda werde oft betont, dass die Ukrainer ihre Brüder seien. Aber die Ukrainer dürften sich nicht von den Russen emanzipieren und hätten keine eigene Kultur. Die Ukraine sei auch keine Nation. In der Geschichte spielte das Ereignis „Holodomor“ eine wichtige Rolle für die Ukrainer, aber in Russland versuchten Wissenschaftler und Politiker, zu verhindern, dass die Ukraine eine eigene Sicht auf die Geschichte entwickelte. Seit der Besetzung der Krim werde die ukrainische Kultur systematisch ausgelöscht.

In Kapitel 10 geht es um die Rolle der orthodoxen Kirche in der Politik. Der Chef der Kirche, Kirill, sagt, dass man durch Opfer für das Land von Sünden gereinigt wird. Die Kirche arbeitet eng mit der Regierung zusammen und Kirill hat angeblich früher für den KGB gearbeitet. Er hat dem Präsidenten Putin bei einer Wahl geholfen und unterstützt jetzt die Propaganda. In Kapitel 11 geht es um den Schulalltag in Russland im Jahr 2022. Schüler müssen jetzt vor der Schule aufstehen, um die russische Flagge zu grüßen. Es gibt ein neues Fach namens „Gespräche über Wichtiges“, in dem die Schüler lernen, stolz auf ihr Land zu sein. Die Schulen werden benutzt, um politische Indoktrination und Manipulation zu betreiben, und viele Lehrer arbeiten dabei mit. Es gibt sogar Fälle von Entlassungen, weil Lehrer nicht die politische Linie der Regierung unterstützen. Die Autoren des Buches zeichnen ein düsteres und beängstigendes Bild der russischen Gesellschaft. Es ist unklar, wie sich die Dinge ändern können, da so viele Menschen von Propaganda beeinflusst werden.

Das Buch bietet einen beunruhigenden Einblick in die russische Gesellschaft, die von Ängsten, Traumata, Unterdrückung, Gleichgültigkeit und Intoleranz geprägt zu sein scheint. Die Propaganda beeinflusst fast alle Bereiche der Gesellschaft. Wie kann man die Menschen in Russland erreichen, damit sie aufwachen und Veränderungen bewirken? Diese Frage bleibt unbeantwortet und beschäftigt mich sehr. Ich empfehle das Buch allen, die sich für die persönlichen Erfahrungen und Ansichten der normalen russischen Bevölkerung interessieren und nicht nur die politische Ebene betrachten möchten. Leider muss man nach einem Jahr Krieg kritisch feststellen, dass die russische Bevölkerung Putin unterstützt und seine Machtposition ermöglicht hat.

Das Buch ist wichtig und verdient meiner Meinung nach 5 Sterne.

  • Herausgeber ‏ : ‎ Verlag Herder; 1. Edition (13. Februar 2023)
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Broschiert ‏ : ‎ 208 Seiten
  • ISBN-10 ‏ : ‎ 3451399784
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3451399787
  • Abmessungen ‏ : ‎ 12.7 x 2 x 20.5 cm

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