/ Januar 13, 2020/ Romane

von Anna Burns 

Mir ist der Nordirland-Konflikt der Siebziger- und Achtzigerjahre bis heute unbegreiflich geblieben. Die Autorin Anna Burns Milkman ist der perfekte literarische Spiegel der dortigen Denkweise und Geisteshaltung von den Menschen, die in der Zeit des Bürgerkrieges aufgewachsen sind

Anna Burns hat es geschafft, dem Irrsinn der TROUBLES literarisch gerecht zu werden. Die vermittelt das Gefühl der ständigen Bedrohung, den männlich-chauvinistisch-pubertären Terror, die Verdächtigungen, das Misstrauen, die paranoide Gerüchteküche, die haarsträubenden religiösen und sozialen Zwänge in eine Sprache zu kleiden, die all dies widerspiegeln kann.


Eugene McCabe hat in seinen Erzählungen über ländliche Settings mit konventionellen Mitteln eine ähnlich klaustrophobische Atmosphäre geschaffen. Anna Burns geht da weit darüber hinaus, indem sie die Charakteristika der nord-irischen Kommunikation, das Verheimlichen und Zudecken, das Verstecken der Botschaft hinter einer Wand von langen, weitschweifigen Sätzen zum Stilmittel macht. Im echten Leben wirkt das oft sehr komisch und wahnsinnig zermürbend, aber nie langweilig.

Die Schilderungen in den Troubles sind seinerzeit so real, und in Unterhaltungen in der Gegewart metaphorisch, man nie weiß, von wo der nächste Angriff kommt.

Auf weite Strecken wohl auf eigenes Erleben zurückgreifend – anders ist diese Intensität und Genauigkeit nicht erklärbar – , STILISTISCH EINZIGARTIG, vermag die Autorin den Leser hineinzuziehen in diesen heute kaum mehr vorstellbaren Sumpf der Einschüchterung, des Misstrauens und der Segregation.

Exemplarisch festgemacht an der Not eines 18jährigen Mädchens, das von einem paramilitärischen älteren (IRA-) Mann – MILKMAN genannt – auf subtilste Art sexuell bedrängt wird. Die Stimme, die Anna Burns diesem Mädchen gibt, ist eine so nie gehörte. BEÄNGSTIGEND und BEKLEMMEND vor allem. Doch dabei nicht selten herrlich KOMISCH und tatsächlich auch BEGLÃœCKEND. Glücksgefühl über diese Sprache, diese akribische Stilistik, die wie ein Äquivalent der Denk- und Gefühlswelt der unglückseligen Bürgerkriegsjahre in Nordirland wirken. Wer Autoren mag, die einen extrem originären Weg des Ausdrucks und Schreibstils finden, diesen konsequent durchhalten und dabei kaum Schwächen zeigen, der wird mit Anna Burns glücklich.

Die handelnden Personen haben keine Namen. Als Somebody McSomebody, Middle-sister, Third brother-in-law, Maybe-boyfriend und MILKMAN treten sie auf.
„So SHINY was bad, and TOO SAD was bad, and TOO JOYOUS was bad, which meant you had to go around NOT BEING ANYTHING.“ (p. 91)
Anna Burns gibt uns viel zu denken auf.

Ein seltsames Unbehagen beschleicht den Leser, mit ungeheurer Wucht zieht ihn die Autorin hinab in den Strudel der unterschwelligen Angst, erzeugt durch Terror, Verdächtigung, GOSSIP, Bespitzelung, psychotische Verengung des Blickwinkels auf beiden Seiten. Horrend die soziale, katholisch-protestantische Verstocktheit und Verblendung. Zum SCHREIEN KOMISCH, wie die betenden Mütter auf’s Beten pfeifen und dem anderen, dem WIRKLICHEN MILKMAN in Liebe verfallen. Und doch auch die berührendste Stelle im Buch. Denn er ist der einzige AUFRECHTE – und die Frauen, die Söhne und Ehemänner durch den Terror auf beiden Seiten verloren haben, verzehren sich in der Sehnsucht nach NORMALITÄT.

Anna Burns schafft es diese Atmosphäre auf mehreren Ebenen zu vermitteln, auf der Handlungsebene der Protagonisten, durch die Stimme der Ich-Erzählerin und vor allem durch ihre Sprache und Stilmittel. Ein innovatives und trotzdem gut lesbares Buch.

  • Gebundene Ausgabe: 496 Seiten
  • Verlag: Tropen; Auflage: 1. (22. Februar 2020)
  • Sprache: Deutsch
  • ISBN-10: 3608504680
  • ISBN-13: 978-3608504682

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