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Der Roman „Seerauchen“ von Sabine Eschbach erzählt eine eindringliche Geschichte über Anderssein, Mut und Menschlichkeit in einer Zeit, in der Abweichung von der Norm lebensgefährlich war. Die Autorin verbindet historische Realität mit einer außergewöhnlich einfühlsamen Innenperspektive – der des jungen Josef, eines Jungen, der die Welt anders wahrnimmt als die Menschen um ihn herum.
Die Handlung spielt am Bodensee in den 1930er- und 1940er-Jahren, zur Zeit des Nationalsozialismus. Josef wächst mit seiner Mutter Martha auf einem kleinen Bauernhof am Rand eines Dorfes auf. Das Leben der beiden ist einfach und mühsam. Sie haben kaum Besitz, kaum Freunde, und werden von der Dorfgemeinschaft eher geduldet als akzeptiert. Doch Martha liebt ihren Sohn über alles – auch wenn sie ihn nicht immer versteht.
Josef ist anders. Geräusche und Stimmen klingen in seinem Kopf wie Farben, jedes Geräusch hat für ihn eine Form oder eine Bewegung. Wenn jemand laut spricht oder Türen schlagen, kann ihn das völlig durcheinanderbringen. Kleine Veränderungen in seinem Alltag verunsichern ihn stark. Erst mit sieben Jahren spricht er sein erstes Wort. Nach heutigem Wissen würde man sagen: Josef ist autistisch. Doch in der damaligen Zeit gab es keine Begriffe oder Verständnis für Menschen wie ihn.
Als Josef endlich zur Schule gehen darf, scheint für ihn ein Traum wahr zu werden: Er möchte dazugehören, Freunde finden und zeigen, was er kann. Der Dorfschullehrer erkennt früh, dass Josef ein besonderes Kind ist. Er fördert ihn behutsam, lässt ihn rechnen, malen und beobachten. Unter dieser freundlichen Anleitung entfaltet Josef seine Begabungen – seine Fähigkeit, Muster zu erkennen, Dinge zu ordnen und Zusammenhänge zu sehen, die anderen verborgen bleiben.
Doch während Josef langsam Vertrauen fasst, verändert sich das Land um ihn herum. Die Ideologie der Nationalsozialisten greift auch im abgelegenen Dorf um sich. Was zuerst wie ferne Politik erscheint, wird bald zur bitteren Realität. Die Menschen beginnen, alles, was anders ist, als Gefahr zu sehen. Das Gift der Propaganda erreicht auch die Nachbarn, und der Hass wächst.
Josef, der ohnehin am Rand der Gesellschaft steht, wird zum Ziel von Spott, Misstrauen und Feindseligkeit. Seine Mutter versucht, ihn zu schützen, doch sie merkt, dass selbst diejenigen, die früher freundlich waren, sich abwenden. Die wenigen Menschen, die Josef verstehen und ihm wohlgesinnt sind, verschwinden – manche aus Angst, andere, weil sie selbst Opfer des Regimes werden.
Inmitten dieser Bedrohung muss Josef lernen, sich selbst zu behaupten. Er steht vor einer schweren Entscheidung: Soll er sich verstecken, anpassen oder den Mut finden, seiner eigenen Wahrnehmung treu zu bleiben?
Sabine Eschbach zeichnet ein bewegendes Porträt eines Jungen, der trotz Ablehnung und Gefahr seine eigene Art zu denken und zu fühlen nicht verliert. Sie beschreibt Josefs Innenwelt mit großer Sensibilität – die Farben, die er hört, die Klänge, die für ihn leuchten, und die Schönheit, die er in den kleinsten Dingen sieht. So entsteht ein einzigartiger Blick auf die Welt, der zeigt, dass Anderssein kein Fehler ist, sondern eine andere Form von Begabung.
Gleichzeitig hält der Roman uns einen Spiegel vor: Er erinnert daran, wie leicht eine Gesellschaft Menschen ausschließt, die nicht in ihr Bild passen. „Seerauchen“ erzählt von der zerstörerischen Kraft von Angst und Vorurteilen – und von der Stärke, die darin liegt, sich selbst treu zu bleiben, auch wenn die Welt feindlich wird.
Der Titel „Seerauchen“ – das Nebelphänomen über dem Bodensee – steht sinnbildlich für Josefs Wahrnehmung: eine Welt voller Dunst und Licht, in der sich Dinge verschleiern und doch in den schönsten Farben glühen können.
Sabine Eschbach schreibt poetisch und zugleich klar. Ihre Sprache ist ruhig, manchmal fast malerisch. Sie lässt uns die Welt durch Josefs Augen sehen und spüren, wie zerbrechlich, aber auch wie kostbar Menschlichkeit sein kann.
„Seerauchen“ ist ein stiller, aber kraftvoller Roman über ein Kind, das anders ist – und darüber, wie viel Mut es braucht, in einer grausamen Zeit Mensch zu bleiben. Es ist eine Geschichte, die noch lange nachhallt, weil sie zeigt, dass selbst im Dunkel der Geschichte Farben leuchten können.
- Herausgeber : Dörlemann
- Erscheinungstermin : 21. August 2025
- Auflage : 1.
- Sprache : Deutsch
- Seitenzahl der Print-Ausgabe : 352 Seiten
- ISBN-10 : 3038201723
- ISBN-13 : 978-3038201724
- Abmessungen : 13 x 3.3 x 20.9 cm