von Brigitte Hocke | 15. Mai 2024
Ein leises Klicken. Der Cursor blinkt ungeduldig auf dem Bildschirm, als wolle er ihr zurufen: „Schreib! Erzähl!“ Doch Bärbel Haake zögert. Ihre Finger schweben über der Tastatur, während sie sich ein weiteres Stück Schokolade in den Mund schiebt. Die Süße zergeht langsam, doch ihre Gedanken sind bitter.
Es ist nicht die Schokolade, die sie festhält. Es ist die Vergangenheit, die mit kalten Fingern nach ihr greift. Ein Strom von Erinnerungen, ein reissender Fluss, der sie mit sich zieht. Die Kindheit, einst hell und unbeschwert, verdunkelt sich, als die Freundin Sara eines Tages nicht mehr kommt. „Goldsteins sind umgezogen“, sagt die Mutter beiläufig. Doch Bärbel begreift schon damals, dass in diesen Worten etwas Unheilvolles steckt.
Und der Vater? So oft ist sie vor ihm in Deckung gegangen, hat seinen Zorn gespürt, seine Fäuste gesehen. War er ein Nazi? Bärbel hat nie gefragt. Vielleicht aus Angst vor der Antwort. Vielleicht, weil sie die Antwort schon kennt.
Doch es gibt Licht in dieser Dunkelheit. Der nette Nachbar, der ihr die fremde Sprache beibringt, die bald zu ihrer eigenen wird. Doch dann, plötzlich, werden die Deutschen ausgewiesen, und wieder steht sie da, entwurzelt, entreißen aus einem Zuhause, das nie wirklich ihres war.
Die Jahre vergehen. Studium, Wissen, die Liebe zu Harald. Harald, ihr Anker, ihr Gefährte. Mit ihm teilt sie die Leidenschaft für Literatur, die Magie der Worte. Sie finden ein Zuhause in der Wissenschaft, lehren, diskutieren, formen junge Köpfe. Bärbel glaubt, endlich angekommen zu sein.
Doch die Vergangenheit ruft. Lauter als je zuvor. Also beginnt sie zu schreiben. Seite für Seite reißt sie alte Wunden auf, bringt verborgene Wahrheiten ans Licht. Sie glaubt, dass sie dadurch frei wird. Doch während sie in ihrer Geschichte versinkt, bleibt das Leben außen vor der Tür. „Erst schreiben, dann wieder leben“, sagt Harald lächelnd.
Dann stirbt er. Sein Tod hinterlässt eine Stille, die kein Wort zu füllen vermag. Kann sie ohne ihn weiterleben? Kann sie ohne ihn weiterschreiben?
Die Finger tasten wieder über die Tastatur. Der Cursor blinkt. Schreiben oder leben? Ist das Schreiben nicht auch eine Art zu leben?
Sie atmet tief durch. Und beginnt zu tippen.
Ein tief bewegendes Buch, das Vergangenheit und Gegenwart kunstvoll verwebt. Die Autorin fängt die Zerrissenheit der Protagonistin eindringlich ein – zwischen Erinnerungen, Verlust und der Suche nach Heimat. Besonders beeindruckend ist die Sprache: poetisch, kraftvoll und doch unsentimental. Die Geschichte berührt, regt zum Nachdenken an und bleibt lange im Gedächtnis. Ein Muss für alle, die sich für autobiografische Literatur und emotionale Tiefe begeistern!
- Herausgeber : Neues Leben; 1. Edition (15. Mai 2024)
- Sprache : Deutsch
- Gebundene Ausgabe : 1418 Seiten
- ISBN-10 : 3355019224
- ISBN-13 : 978-3355019224
- Abmessungen : 12.7 x 5.8 x 21 cm