Die Autorin zeigt in ihren Artikeln eine andere Perspektive auf die Jahre, die durch die Serie „Berlin Babylon“ bekannt geworden sind. Sie beleuchtet die soziale Not und die zunehmend angespannte politische Situation in dieser Zeit.
Gabriele Tergit ist eine Schriftstellerin aus der Zeit der Weimarer Republik, die nicht vergessen wurde. Sie hat nur einen Roman geschrieben, bevor die Nazis an die Macht kamen. Trotzdem wurde ihr Buch viele Jahre später wiederentdeckt und wurde sehr erfolgreich. 1983 wurden auch ihre Erinnerungen veröffentlicht.
Tergit ist jedoch am bekanntesten für ihr großes Buch „Effingers“, das fast 20 Jahre nach dem Ende der Weimarer Republik geschrieben wurde. Es hat mehrere Auflagen erreicht und wurde im Jahr 2019 wieder Aufsehen erregt.
Tergit war eigentlich keine Romanautorin, sondern eine Gerichtsreporterin. Zwischen 1924 und 1933 hat sie für verschiedene Zeitungen in Berlin viele Berichte über Prozesse geschrieben.
Tergit berichtet über wahre Fälle aus einer deutschen Stadt während der Weimarer Republik, aber manchmal erinnert es an fiktive Gerichtsverfahren in einer bayerischen Provinz zur Zeit des Prinzregenten Luitpold, die im 1970er Jahren im ZDF im Rahmen der Serie „Königlich-Bayerisches Amtsgericht“ ausgestrahlt wurden. Auch vor dem Kriminalgericht in Moabiter Turmstraße wurde oft über kleine Verbrechen verhandelt, wie z.B. ein Delinquent, der nur 75 Pfennige im Monat erschwindelt hatte, oder jemand, der eine halbes Jahr im Gefängnis verbrachte, weil er Lampen aus Treppenhäusern herausgeschraubt hatte. Einige Angeklagte wurden aus Not, Ahnungslosigkeit oder Naivität kriminell, andere Fälle sind heute noch skurril, wie z.B. einer, der die Zusammenhänge zwischen einem hypnotisierten Mädchen, einer verschwundenen Uhr und einem großen Unbekannten aufzuklären versuchte.
Manchmal verwendet die Reporterin auch verharmlosende Formulierungen, wie z.B. dass ein Angeklagter Steine sammelte, um sie auf den Kopf seines Rivalen zu werfen. Also sind nicht alle verhandelten Fälle harmlos. Tergit berichtet auch gleich zu Anfang über einen Mordprozess aus dem Jahr 1925. Manchmal standen vor Gericht ganze Lebensgeschichten, wie die einer Frau, die aus Not abtrieb. „Ein Fall von tausend Fällen“, kommentiert Tergit. Gegen keinen anderen Paragraphen nimmt die Gerichtsreporterin so stark und häufig Stellung wie gegen das Abtreibungsverbot im § 218. „Aber aller Jammer und alle Empörung über diesen Paragraphen scheinen nichts zu nützen“, stellt sie irgendwann resigniert fest. Die Gerichtsreporterin ist auch entrüstet über das Urteil einer Mutter wegen Kuppelei, das sie „ungeheuer“ begründet und argumentiert, „dass die Angeklagte das Bewusstsein und Wissen hatte, dass ihre Tochter auf bösem Wege war. Wenn sie aber dieses Bewusstsein hatte, reicht dies allein für eine Bestrafung
Tergit beschreibt die Personen in Gerichtsfällen, wie Kläger und Angeklagte sowie Zeugen, immer mit vollem Namen. Tergit beschreibt auch ihr Aussehen, was früher üblich war, aber heute nicht mehr akzeptabel ist. Tergit hat auch rassistische Vorurteile, wie man an ihren Beschreibungen von bestimmten Personen sehen kann. Tergit beurteilt auch Zuhörer und Wachmänner und beschreibt Frauen oft als „Mädchen“. Selbst ein 21-jähriges Mädchen, Tergit, wird als „junges Mädchen“ bezeichnet.
Männer werden dort immer als Männer beschrieben, auch wenn sie noch Kinder sind. Frauen hingegen werden oft in einer herabsetzenden Art und Weise beschrieben, beispielsweise wird ihnen unterstellt, nicht zurechnungsfähig oder ungenau in ihren Aussagen zu sein. Tergit berichtet auch über Klischees über Frauen, beispielsweise, dass sie kämpfen und sich prügeln.
In der Weimarer Republik gab es viele politische Konflikte zwischen Kommunisten und Nationalsozialisten, die sich auch in den Prozessen vor dem Moabiter Gericht zeigten. Anfangs beschrieb Tergit die Gewalt als ein Problem unter Jugendlichen, aber später wurde sie sich des Ernstes der Lage bewusst. Es hatte sich ein „zweierlei Recht“ entwickelt, bei dem Nationalsozialisten milde bestraft wurden und Kommunisten hart bestraft wurden. Tergit berichtet auch über eine besonders schlimme Tat, bei der Nazis einen jüdisch aussehenden Zeitungshändler jagten, erstachen und erschlugen, aber nur für 5 Jahre ins Gefängnis mussten.
Tergit schließt ihre Reportagen oft mit nachdenklichen Überlegungen ab, die mal gesellschaftskritisch, mal moralisch, mal misanthropisch sind und etwa besagen, dass „nur die Dilettanten vor Gericht stehen, die Meister auf goldenen Thronen sitzen“ oder dass „Gerichtsverhandlungen nicht das Schlimmste“ seien, „sondern der Mitmensch“.
Das Gerichtsgebäude in Moabit war jedoch zu Recht als „Quelle für die Erkenntnis der Zeit“ bekannt, da seine Prozesse die Weimarer Gesellschaft auf ihrem Weg in den Nationalsozialismus in einer Art Brennglas zeigten. Aber nicht nur die Verhandlungen können heute als Spiegel der Zeit gelten, sondern auch die Art und Weise, wie Tergit über sie berichtet.
- Herausgeber : btb Verlag (11. Januar 2023)
- Sprache : Deutsch
- Taschenbuch : 368 Seiten
- ISBN-10 : 3442772516
- ISBN-13 : 978-3442772513
- Abmessungen : 11.7 x 2.8 x 18.5 cm