Das Grundgesetz im Lichte des christlichen Glaubens
von Josef Bordat und Mechthild Löhr
Dieses Werk von Josef Bordats – er ist ein promovierter Philosoph und Redakteur der katholischen Zeitung Die Tagespost – beschreibt die kritische Würdigung des Grundgesetzes, das 2019 sein 70-jähriges Bestehen feiert.
Der Autor betont , dass dieser Gesetzestext die Grundlage des Rechtsstaats Bundesrepublik Deutschland bildet und nach den massiven Menschenrechtsverletzungen während der nationalsozialistischen Diktatur Ausdruck einer radikalen ethischen Neuausrichtung war:
Das staatliches Recht wurde wieder fest mit Sittlichkeit, Vernunft und Gewissen in Verbindung gebracht. Die Formulierung „in Verantwortung vor Gott“ weist darauf hin, dass der Rechtsstaat von Voraussetzungen lebt, die er selbst weder hervorgebracht hat noch hervorbringen kann.
Bordat
erwähnt, dass die Grundrechte sowohl an den größten ethischen
Möglichkeiten des Menschen als auch an seiner hohen Verantwortung
ausgerichtet sind (S. 32 f.). Nur so ist ein Einklang zwischen
persönlichem Glück und Allgemeinwohl erreichbar, das letztendlich
auch nicht auf die Angehörigen der eigenen Nation begrenzt bleiben
darf.
Im
interessanteste
Teil seines erinnert Bordat an wichtige Voraussetzungen und
Wegbereiter: Bereits im Rationalismus (17. Jh.) werden
Volkssouveränität und das Recht auf Widerstand gegen Tyrannei
betont (S. 35); zugleich wurde aber auch darauf hingewiesen, dass
Gott die Natur von den ersten Anfängen an geordnet habe (S. 38 f.)
und Gottes Wille als letzte Instanz verstanden werden müsse (S. 40).
In der Aufklärung (18. Jh.) wurde das Naturrecht insbesondere mit
der Unterwerfung unter den allgemeinen Willen verknüpft (S. 45).
Immanuel Kant korrigierte diesen Rigorismus, indem er betonte, dass
die Sittlichkeit (Moralität) über dem Recht (Legalität) stehe,
zumindest im Konfliktfall (S. 47). Je mehr sich die Gesetzgebung aber
nach dem Kategorischen Imperativ (S. 46) ausrichtet, der an
Verallgemeinerbarkeit, Gesamtinteresse und Menschenwürde orientiert
ist, desto geringer kann diese Diskrepanz gehalten werden.
Der
Idealismus (19. Jh.) knüpft an diese Erkenntnisse an: Während J.G.
Fichte einen „Vernunftsstaat“ für möglich hält (S. 48), ist
F.W.J. von Schelling davon überzeugt, dass die Moralität eher von
der Freiheit abhängig ist als umgekehrt (S. 49). G.W.F. Hegel zeigt
an, dass zwischen Selbstbestimmung und Naturrecht ein gewisses
Spannungsverhältnis bestehe (S. 52) – daher erweist sich die
Aufklärung als ein durchaus dialektisches Phänomen .
Bei
den Schlussfolgerungen
(S. 53 f.) verweist Bordat auf die zentrale Problematik einer
Letztbegründung der Verbindlichkeit des Rechts, oder, genauer, der
Grundnorm Leben in Würde soll sein als unabdingbarer Basis von §1
des Grundgesetzes.
Solche
Letztbegründungen haben den Vorteil, dass sie sowohl Gläubigen als
auch Humanistinnen und Humanisten den Weg zu einer Zustimmung und
Befolgung ebnen. Bordat erwähnt in diesem Zusammenhang Platon,
Jürgen Habermas und Karl-Otto Apel:
–
Platon betonte, dass alles, zumindest alles geisteswissenschaftliche,
Lernen und Erkennen, erinnerndes und (wieder-) entdeckendes Lernen
und Erkennen sei. Mit diesem Objektiven Idealismus vertritt er eine
Gegenposition zum heute weit verbreiteten Konstruktivismus, der
besagt, dass jeder Mensch (nur) seine eigene Wahrheit finden könne.
–
Habermas vermittelt in seiner Diskurstheorie, dass zur
Wahrheitsfindung ein Dialog im möglichst herrschaftsfreien Raum
notwendig sei, bei dem sich immer wieder die Kraft des besseren
Arguments als entscheidendes Kriterium erweisen müsse.
–
Apel verwies darauf, dass in radikalen Zurückweisungen grundsätzlich
gültiger Sätze ein Selbstwiderspruch zutage tritt, etwa in den
Postulaten, dass keine unbedingt gültigen Sätze existierten oder
man solchen mithilfe der Sprache nicht näher kommen könne.
Ergänzt
werden können diese Letztbegründungsansätze noch durch die
Notwendigkeit existenzieller Empirie: Wohl nur diejenigen, welche die
Tragfähigkeit eines Sollensanspruchs wirklich erfahren haben, werden
diesem mit tiefster innerer Ãœberzeugung zustimmen und ihre
Lebenspraxis langfristig und unbeugsam daran ausrichten.
Die
Offenbahrungswahrheit ist für
gläubige Menschen eine weitere, ursprünglichste Säule der
Letztbegründung . Der Autor zeigt, das polytheistische Religionen
im Naturrecht erkannten, den „ersten Dingen“, einen Akt
göttlicher Selbstmitteilung (S. 56). In der Bibel wird Gott als
obersten Richter (z.B. in Psalm 7) dargestellt; zudem sind den
Schöpfungserzählungen (Genesis 1/2) zufolge alle Menschen frei und
gleichberechtigt erschaffen (S. 60). Weiterhin erweist sich für
Gläubige Gott als „letzter Bestimmungsgrund“ von Vernunft und
Gewissen (S. 69).
Auch
Nicht-Glaubende der Aussage „im Bewusstsein der Verantwortung vor
Gott und den Menschen“ in der Präambel des Grundgesetzes häufig
zustimmen, weil diese vor allem als Demutsformel verstanden werde:
Viele bezweifeln, ob der Mensch Gutes ausschließlich aus eigener
Kraft erkennen und bewerkstelligen könne.
Eigenes
Befinden
und „Sachzwänge des Zeitgeistes“ dürften hierfür nicht genügen
(S. 75). Daher müssten (gewaltfreie) Formen der Gewissensprüfung
immer neu entwickelt werden (S. 152), damit sich der Mensch solche
Entscheidungen nicht zu leicht mache und sie nicht im Kontext einer
„subjektivistischen Willkürmoral“ (S. 133) zustande kommen. Es
sei unerlässlich, das Gewissen zu schärfen – wozu es wohl vor
allem der Bildung einer hohen moralischen Sensibilität und einer
intensiven Einübung in Perspektivwechsel bedarf.
Im
anschließenden Kapitel „Würde“ wird betont, dass Artikel 1
des Grundgesetzes („Die Würde des Menschen ist unantastbar“) im
Gegensatz zu allen anderen Paragraphen unaufhebbar ist. Die Würde
betone sowohl die Gottebenbildlichkeit und Unersetzlichkeit jedes
einzelnen Menschen (etwa in Anknüpfung an K.C.F. Krause) als auch
seine Unverfügbarkeit für andere; er darf (nach Kant) nie nur
Mittel zum Zweck, keinesfalls bloßes Objekt sein. Für Gläubige und
auch einige metaphysisch offene Denker, etwas Karl Jaspers, steht
diese Würde zudem nicht in der eigenen Verfügungsgewalt, sondern
ist ihnen geschenkt, ihrem Zugriff letztlich entzogen – womit auch
der freien Selbstbestimmung gewisse Grenzen gesetzt sind. Des
Weiteren entziehe Gott dem Menschen seine Würde selbst dann nicht,
wenn dieser die Möglichkeiten seines Menschseins verfehlt habe, was
mit Verweis auf das Gleichnis vom barmherzigen Vater (Lk 15,11–32)
entfaltet wird (S. 90).
Beim
Kapitel „Leben“ (Grundgesetz, Artikel 2,2) zeigt Bordat, das
er ein überzeugender Verfechter für das Lebensrecht von ungeborenen
Kindern ist. Denn dieses beginne biologischen Erkenntnissen zufolge
bereits mit der Befruchtung einer Eizelle (S. 113) und bedürfe
keiner Zustimmung Dritter (S. 124). Abtreibungen können von daher
nicht auf ein Selbstbestimmungsrecht zurückgeführt werden. Auch
werde die im Gesetz erwähnte „zumutbare Opfergrenze“ häufig zu
niedrig angesetzt (S. 133). Weiterhin kritisiert Bordat die gängige,
ergebnisoffene Beratungspraxis als „formalisiertes
Standardverfahren“, in dem allzu oft „leidenschaftslose
Neutralität“ zutage trete (S. 131) und rechtfertigt in diesem
Zusammenhang den Ausstieg der Katholischen Kirche aus diesem
Procedere. Zutreffend räumt er aber auch ein, dass sich das
Strafrecht zur Eindämmung von Abtreibungen letztlich nicht eigne (S.
134) und ein Lebensschutz nicht gegen die Mutter, sondern nur mit der
Mutter möglich sei (S. 138). In diesem Zusammenhang sollte nicht
verschwiegen werden, dass ein hoher Prozentsatz von Frauen, die eine
Schwangerschaft abbrechen, von ihren Partnern (manchmal auch den
Eltern) massiv dazu gedrängt worden sind und viele allein erziehende
Mütter in Deutschland, auch solche mit abgeschlossener
Berufsausbildung, nur knapp über oder sogar unter der Armutsgrenze
leben. Zum moralischen Bewusstseinswandel (S. 134) den Bordat im
Kontext mit dem Lebensschutz von Embryonen völlig zurecht anmahnt,
sollte auch die Änderung dieser beklagenswerten Zustände
gehören.
Im
Kapitel „Freiheit“ (Grundgesetz, Artikel 4) wird neben dem bei
genauem Hinsehen hochanspruchsvollen Phänomen der Gewissensfreiheit
(s.o.) vor allem die Religionsfreiheit betont und diskutiert. Wichtig
dabei ist zu beachten, dass die Ausübung ihrer jeweiligen Religion
(bis hin zum Privatbesitz einer Bibel) vielen Menschen ein derartiges
Herzensanliegen ist, dass deren Verbot zu einer schwerwiegenden
Identitätskrise führen würde (S. 149). Weiterhin plädiert Bordat
für einen Konfrontationspluralismus (S. 158): Religionsausübung,
freilich immer in gewaltfreier Form und jenseits von spirituellem
Missbrauch, darf gesellschaftlich also durchaus auch anstößig sein
– gerade zum Schutz der Würde aller Menschen. Des Weiteren solle
die im Grundgesetz festgehaltene staatliche Wertneutralität nicht
mit Wertfreiheit oder Wertabstinenz gleichgesetzt werden
(S.
160). In diesem Zusammenhang habe der Staat das Recht und die
Aufgabe, eine Religion je eher zu unterstützen, desto mehr diese im
Dienst der Interessen des Gemeinwohls und der Menschenrechte stehe
(S. 161).
Im
Kapitel „Kirche“ (Grundgesetz, Artikel 137) verweist der Autor
sowohl auf die Trennung von Kirche und Staat in Deutschland als auch
auf sinnvolle Formen der Zusammenarbeit beider Institutionen, etwa
das Erheben von Kirchensteuer und das staatliche Zugeständnis eines
kirchlichen Arbeitsrechts (S. 183). Auch werden finanzielle
Einnahmen, oft gepaart mit Win-win-Situationen für Kirche und Staat
(z.B. bei Kirchentagen oder im Zusammenhang mit sozialem Engagement)
mit der sehr bedenkenswerten Erkenntnis gerechtfertigt: „Wir
brauchen eine wohlhabende Kirche – für die Armen“ (S. 191).
Im
abschließenden Kapitel „Zukunft“ macht Bordat deutlich, dass
das Grundgesetz – obwohl nach dem Willen seiner Verfasser als
Provisorium für Korrekturen und Ergänzungen ausdrücklich offen –
schlank bleiben müsse und nicht zu unübersichtlich werden dürfe
(S. 201). Dennoch sei eine Erweiterung um wirklich zentrale, für
eine gelingende Zukunft hochbedeutsame Themen, wünschenswert und
notwendig. Vor allem die Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen
im Sinne ökologischer Nachhaltigkeit (S. 197) wird in diesem
Zusammenhang ausdrücklich erwähnt und hervorgehoben. Die
gegenwärtig diskutierte Aufnahme der Kinderrechte ins Grundgesetz
sieht der Autor jedoch eher skeptisch, weil dadurch der Staat in
seiner dann deutlich erweiterten Wächterfunktion die Elternrechte
allzu sehr beschneiden könne (S. 205 ff.).
Zusammengefasst
beschreibt Josef Bordat, wie bereits in den bisherigen
Buchpublikationen, auch mit seinen Ausführungen zu Grundgesetz,
Recht, Ethik und Religion annähernd uneingeschränkt zu überzeugen
weiß: durch klare, verständliche Sprache, große inhaltliche Dichte
und Stringenz, ein erfreulich eindeutiges Ethos der
Menschenfreundlichkeit und eine innere Haltung, die im Konfliktfall
stets Primärtugenden den Vorrang vor Sekundärtugenden einräumt –
auch wenn damit ein hoher sittlicher Anspruch verbunden ist, der
Menschen, insbesondere Gläubigen, durchaus viel abverlangt, aber
auch Erstaunliches zutraut.
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