/ August 10, 2023/ Romane

Necati Öziri

Der Autor startet die Erzählung mit einer Einleitung von Christa Wolf: „Ich stelle den Schmerztest an. Wie der Arzt, der eine Extremität ansticht, um festzustellen, ob sie abgestorben ist… so pikse ich in meine Erinnerungen.“

Durch diese Eröffnung taucht der Leser direkt in die melancholische Stimmung des Buches ein.

Die Erzählung nimmt ihren Anfang ebenfalls in einer düsteren Atmosphäre, da der zentrale Charakter des Buches, der Literaturstudent Arda Kaya, dem Tod nahe ist. Sein Zustand ist gezeichnet von einem Versagen der Organe.

Arda ist unsicher darüber, wie viel Zeit ihm noch bleibt. Er liegt mit Organversagen im Krankenhaus seiner Heimatstadt im Ruhrgebiet und ringt mit der Ungewissheit. An seinem Bett sitzen abwechselnd seine Mutter Ümran und seine Schwester Aylin. Die beiden haben seit zehn Jahren kein einziges Wort miteinander gewechselt.

Der zentrale Fokus dieses poignanten Romans liegt auf dem Abwesenheit eines Vaters im Leben von Arda Kaya und auf seiner Suche nach Zugehörigkeit in einem Land, in dem er zwar geboren wurde, aber nicht vollständig verankert ist. Ardas Vater verließ seine Mutter, als diese mit ihm schwanger war, und kehrte in die Türkei zurück. Seitdem kämpft Ardas überforderte und emotional instabile Mutter Ümran damit, ihre drei Kinder alleine aufzuziehen, was unausweichlich zu zahlreichen Herausforderungen führt. Allerdings dient die alltägliche Problematik einer Migrantenfamilie eher als Hintergrundkulisse in dieser Geschichte. Der Hauptfokus liegt auf der Abwesenheit des Vaters und wie dies das Leben beeinflusst. Arda erinnert sich an seine Kindheit und seine Erfahrungen mit einem abwesenden Vater. Parallel dazu wird auch die Geschichte von Ardas Schwester erzählt, die ebenso herzzerreißend ist. Das Mädchen wurde von der Mutter ungerecht behandelt, was zu vielen Konflikten führte, bis Aylin schließlich in einer Pflegefamilie landete. Auch Aylin hat viel aus ihren Erinnerungen zu teilen.

In einer abschließenden Geste richtet Arda seine Aufmerksamkeit auf seinen Vater, ein Fremder, der ihm sein Leben lang unbekannt war. An diese fremde Figur erzählt Arda Geschichten von Geburtstagen im Ausländeramt und erinnert sich an den letzten Sommer auf dem Bahnhofsplatz, kurz bevor all seine Gefährten verblassen: Bojan wird abgeschoben, Danny wird unerwartet Vater und Savaș kehrt in die Türkei zurück, nachdem er seine Mutter verloren hat.

Doch Ardas Erzählung umfasst auch seine Schwester und seine Mutter: Er spricht von Aylin, die von zu Hause wegläuft, und von Ümran, deren Leben zweifellos einen anderen Verlauf genommen hat, als sie es sich vorgestellt hatte.

Necati Öziri webt eine Geschichte einer Familie, die sich auf einen Sohn, eine Mutter und eine Schwester konzentriert, die alle von den komplexen Wechselwirkungen sozialer und politischer Umstände geprägt sind. Sein Roman ist eine Darstellung von radikaler Wahrheit, Wut, Durchhaltevermögen, Liebe und Sehnsucht.

Die Sprache des Romans ist gelassen, erzählend und an manchen Stellen sogar poetisch bis zu einem gewissen Grad blumig. Insgesamt gestaltet sich die Erzählung äußerst flüssig und angenehm zu lesen. Es gibt zahlreiche Dialoge zwischen den beteiligten Charakteren, die dem Leser einen sehr klaren Einblick in das Familienleben verschaffen.

Die Geschichte des sterbenden Literaturstudenten Arda ist äußerst bewegend.

Sie ist durchzogen von Schmerz, einer tief verwurzelten Traurigkeit und aufrichtiger Empathie.

Ein meisterhaft geschriebener Roman, der mit poetischer Sprache und berührender Tiefe glänzt. Die Charaktere entfalten sich in lebendigen Dialogen, während das emotionale Gewicht der Geschichte den Leser fesselt. Ein literarisches Juwel, das lange nachklingt.

  • Herausgeber ‏ : ‎ Claassen; 1. Edition (27. Juli 2023)
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Gebundene Ausgabe ‏ : ‎ 304 Seiten
  • ISBN-10 ‏ : ‎ 3546100611
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3546100618
  • Abmessungen ‏ : ‎ 12.8 x 2.8 x 21 cm

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