/ Dezember 21, 2022/ Buch, Ratgeber

Wenn es um alles geht, muss man für alles gewappnet sein – sowohl für das Offensichtliche als auch für das, was unerwartet passieren könnte. In der Nacht des 18. Oktober 1977, um 2:05 Uhr Ortszeit in Somalia, stellen gut drei Dutzend Männer fest, dass ihre Funkgeräte ausgefallen sind, während sie unter dem Rumpf der entführten Lufthansa-Boeing „Landshut“ sind. Sie planen, die 737 mit 86 Geiseln an Bord zu stürmen, um die Geiseln zu befreien und die vier Terroristen auszuschalten. Später stellt sich heraus, dass bei starken Schwankungen von Temperatur und Luftfeuchtigkeit Kondenswasser in den Geräten gebildet werden kann – genau das ist passiert, als die Walkie-Talkies wenige Stunden zuvor in der schwülheißen Luft des Flughafens von Mogadischu aus dem Laderaum einer Boeing 707 geholt wurden. Die Funkgeräte hatten zwar während des Tests vor dem gut einstündigen, sehr vorsichtigen Vormarsch zur entlegen abgestellten „Landshut“ noch problemlos funktioniert, aber das hilft jetzt nicht.

Trotzdem zögert Oberstleutnant Ulrich K. Wegener keine Sekunde. Er gibt seinen Männern das Signal, von Funk auf „Führen nach Zeichen“ umzuschalten: Befehle werden ab jetzt durch Hand- und Kopfzeichen gegeben. Acht Scharfschützen haben das „Landshut“ im Visier und sind bereit, die Entführer notfalls aus der Distanz zu erschießen. Das erweist sich aber als unnötig. Um 2:09 Uhr signalisieren sechs Sturmtrupps, jeweils bestehend aus fünf Männern, Wegener: „Bereit!“. Einer der Spezialisten erinnert sich an den Moment: „In den letzten Augenblicken vor dem Eindringen denkt man nur: rein, Position halten, Gegner bekämpfen, das, was ich gelernt habe, Feuer erwidern und fertig.“

Diese und zahlreiche bisher unbekannte Details beschreibt der Autor in seinem Buch zum 50. Jahrestag der Gründung der GSG9.

Es handelt sich um die bisher umfassendste und beste Darstellung der Spezialeinheit. Und anders als frühere Veröffentlichungen beruht es nicht nur auf (meist wenigen) Augenzeugenberichten, Zeitungsartikeln und Memoiren, sondern auch auf den im Bundesarchiv verfügbaren Akten.

In seinem neunseitigen Bericht gibt Wegener den Angriffsbefehl um 2.10 Uhr: „Feuerzauber – Go!“ In den nächsten 60 Sekunden wird die deutsche Spezialeinheit GSG9 geboren – ein Mythos, der durch eine nahezu perfekte Aktion entsteht. Ein Antiterror-Spezialist wird zufällig am Hals verletzt, aber kann trotzdem auf dem Rückflug Sekt auf den Erfolg trinken, während eine Flugbegleiterin durch eine Handgranate, die ein bereits tödlich getroffener Terrorist noch werfen kann, an den Beinen Verwundungen erleidet.

Abschreckung ist ein Hauptziel der GSG9, die sogar ihr israelisches Vorbild, die Spezialeinheit Sajeret Matkal, übertrifft. 1972 hatte Sajeret Matkal bei ihrem Einsatz zur Rettung von Geiseln in einem entführten Flugzeug in Tel Aviv 96 Geiseln befreien können, aber eine Passagierin verloren. 1976 konnten bei einem ähnlichen Einsatz in Entebbe 102 Entführte befreit werden, aber drei Geiseln und der eigene Kommandeur starben.

Seit dem Erfolg des Einsatzes in Mogadischu ist klar, dass die Bundesrepublik nicht bereit ist, terroristischen Erpressungen nachzugeben, sondern die Fähigkeit hat, notfalls mit professioneller Gewalt zu reagieren. Es gibt zwar noch vereinzelte Fälle von entführten deutschen Flugzeugen. Aber jeder Terrorist muss damit rechnen, sich mit den Männern aus dem GSG9-Hauptquartier anzulegen, das bis heute in Hangelar bei Bonn stationiert ist.

Die GSG9 wurde in Deutschland nach zwei schwerwiegenden Vorfällen gegründet. Zunächst scheiterte die Münchner Polizei am 5./6. September 1972 bei ihrem Versuch, die von Palästinensern als Geiseln genommenen israelischen Olympiateilnehmer zu befreien, was zu blutigen Auseinandersetzungen führte. Kurz darauf, am 29. Oktober 1972, gab die Bundesregierung den Forderungen von Terroristen nach und ließ die drei überlebenden Attentäter gegen eine von ihnen entführte Lufthansa-Maschine frei.

Zu diesem Zeitpunkt war die GSG9 gerade in Gründung und ihr erster Chef, Wegener, nahm an einem Sonderlehrgang der israelischen Verteidigungsstreitkräfte teil, dessen Thema „Bekämpfung von arabischen Terroristen durch Spezialeinheiten“ lautete. Die israelischen Offiziere reagierten zunächst reserviert auf Wegener, doch er entschied sich, die Sache frontal anzugehen und bat um eine Aussprache mit allen Lehrgangsteilnehmern. Durch diesen Einsatz überzeugte er die israelischen Spezialisten, ihm die Grundlagen gewaltsamer Geiselbefreiungen beizubringen.

Die GSG9 hatte bereits Zugang zum notwendigen Basiswissen. Allerdings benötigte Wegener noch geeignete Mitglieder (bis heute sind sie ausschließlich männlich). Als die ersten Freiwilligen ihre Grundausbildung im Frühjahr 1973 abgeschlossen hatten, schickte Wegener sie auf Werbetour zu verschiedenen Standorten des Bundesgrenzschutzes (BGS). Die GSG9-Mitglieder wurden bald als die „Djangos vom BGS“ bezeichnet. Der BGS-Psychologe Wolfgang Salewski wusste jedoch, dass dies ein völlig aussichtsloser Ansatz war, geeignetes Personal zu gewinnen. Er wollte weder „Rambos“ noch „Haudegen“ in der Truppe haben und suchte stattdessen nach Männern „ohne Hirn, aber mit vielen Muskeln“.

Die GSG9, eine Eliteeinheit der deutschen Polizei, hatte anfangs vage Auswahlkriterien, aber das änderte sich unter Leitung von Herzog. Er schickte zwei Mitglieder, die nicht hundertprozentig im Griff hatten, „demonstrativ vor versammelter Mannschaft“ zurück zu ihren Stammeinheiten. Die Einheit wurde anfangs als „Trainingsweltmeister“ verspottet und als „Overkiller des Ministers“ bezeichnet. Ein WELT-Reporter besuchte das Quartier der GSG9 und berichtete, dass dort „viel geschossen“ wurde, mit durchschnittlich 360.000 Schuss im Jahr aus jeder denkbaren Stellung, sogar aus dem fliegenden Hubschrauber.

Der GSG9-Einsatzleiter Jürgen Wegener konnte die Eskalation des RAF-Terrorismus im Deutschen Herbst 1977 nicht verhindern. Nach der Entführung von Hanns Martin Schleyer und dem Mord an vier Begleitern sagte Wegener genervt, dass sie seit viereinhalb Jahren den typischen Anti-Guerilla-Kampf übten. Obwohl 180 GSG9-Männer zur Verfügung standen, wurden sie nur selten von den Bundesländern angefordert, deren Zuständigkeit Polizeiangelegenheiten betrifft. Auch die parallel aufgebauten eigenen Verbände waren bei den politisch Verantwortlichen unbeliebt.

Die Gründe für die Einsätze von Spezialeinheiten sind laut Martin Herzog die Remilitarisierung der Polizei, obwohl das Gebot der Stunde eigentlich die Abrüstung sein sollte. In den 1970er Jahren wurde lange um die rechtliche Grundlage für gezielte Todesschüsse auf Geiselnehmer und ähnliche Straftäter gestritten, und es wurde sogar ernsthaft über den „Hinrichtungscharakter“ dieser Schüsse in Medien wie dem „Spiegel“ diskutiert. Trotzdem wurde diese Regelung erst 1988 in drei von damals elf Bundesländern in Kraft gesetzt, obwohl sie bereits im Entwurf für neue Polizeigesetze von 1974/75 enthalten war. Bis dahin mussten tödliche Schüsse gegen Terroristen mit juristischen Hilfskonstruktionen wie Nothilfe begründet werden. Auch im Jahr 2022 lehnen noch immer zwei Bundesländer, Berlin und Mecklenburg-Vorpommern, diese Regelung aus pseudomoralischen Gründen ab. Am 18. Oktober 1977 wurde während der „Landshut“-Aktion keine Diskussion über juristische Fragen geführt. Stattdessen rief ein Mann der GSG9 namens Dieter Fox, als er von der hinteren rechten Tür der 737 durch den engen Gang stürmte und seine Waffe schussbereit im Anschlag hielt: „Köpfe runter! Wo sind die Schweine?“ Nach knapp einer Minute war die Situation geklärt, auch wenn nie bekannt gegeben wurde, wer von der GSG9 genau drei Terroristen erschossen und die vierte Terroristin kampfunfähig gemacht hat. Es reicht jedoch zu wissen, dass die Befreiung erfolgreich war.

  • Herausgeber ‏ : ‎ Ch. Links Verlag; 1. Edition (19. Juli 2022)
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Gebundene Ausgabe ‏ : ‎ 480 Seiten
  • ISBN-10 ‏ : ‎ 3962891420
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3962891428
  • Abmessungen ‏ : ‎ 13.5 x 4.4 x 21 cm

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