
Annegret Puttkammer, evangelische Theologin und Direktorin des Neukirchener Erziehungsvereins, legt mit Ich lass dich nicht allein ein eindrucksvolles, tief berührendes und zugleich differenziertes Werk zur aktuellen Debatte um assistierten Suizid in Deutschland vor. Seit der Neuregelung des § 217 StGB und dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts im Jahr 2020 ist der assistierte Suizid in Deutschland rechtlich möglich – ein tiefgreifender gesellschaftlicher Umbruch, der neue ethische, rechtliche und menschliche Fragestellungen aufwirft. Genau hier setzt Puttkammers Buch an.
Bereits der Titel – Ich lass dich nicht allein – verweist auf die Grundhaltung der Autorin: Es geht ihr nicht nur um die juristische oder moralische Bewertung des assistierten Suizids, sondern vor allem um das Menschliche, das Beziehungsgeflecht, das jeden Sterbewunsch begleitet. Puttkammer bringt die Debatte zurück in den Raum der persönlichen Begegnung, des Mitgefühls und der Verantwortung füreinander. Sie spricht aus der Perspektive einer Praktikerin, die täglich mit der Realität von Sterbewünschen konfrontiert ist – sei es bei älteren Menschen in Pflegeeinrichtungen oder bei Jugendlichen in Krisensituationen.
Das Buch ist nicht polemisch oder dogmatisch, sondern im besten Sinne aufklärend und einladend zur Reflexion. Puttkammer fragt, ohne vorschnelle Antworten zu geben: Was ist Würde? Bedeutet sie immer auch Selbstbestimmung bis in den Tod? Oder ist Würde vielmehr ein Beziehungsbegriff, der sich gerade im Aushalten von Not, Schmerz und Angst, aber auch im solidarischen Dasein für andere zeigt? In diesen Überlegungen wird deutlich, dass sie den assistierten Suizid nicht prinzipiell verdammt, aber ihm auch nicht das letzte Wort lassen will.
Stattdessen wirbt sie für eine Haltung des „Dableibens“ – nicht im Sinne eines passiven Ausharrens, sondern als aktive Begleitung, als echtes Zuhören, als Mitfühlen, als Haltung, die auch in scheinbar ausweglosen Situationen noch Hoffnung und Wertschätzung vermittelt. Besonders bewegend sind die Fallbeispiele und persönlichen Erfahrungsberichte, die Puttkammer einfügt. Sie lassen spüren, dass hinter jeder ethischen Debatte ein konkreter Mensch mit seiner Geschichte steht.
Gleichzeitig gelingt es der Autorin, komplexe ethische und theologische Fragen so aufzubereiten, dass sie auch für Laien verständlich und nachvollziehbar sind. Dies macht das Buch besonders wertvoll für Leserinnen und Leser aus dem sozialen, pflegerischen oder seelsorgerlichen Bereich. Puttkammer spart die theologischen Dimensionen nicht aus, sondern bettet die Diskussion in ein christliches Menschenbild ein – jedoch ohne zu moralisieren. Der christliche Glaube wird dabei nicht als dogmatische Antwort präsentiert, sondern als Kraftquelle für Begleitung und Aushalten, für Nähe und Fürsorge.
Ein besonderes Highlight ist das Vorwort von Prof. Dr. Peter Dabrock, dem ehemaligen Vorsitzenden des Deutschen Ethikrates, sowie von Dr. Stefanie Schardien, die vielen aus dem „Wort zum Sonntag“ bekannt ist. Beide geben dem Buch zusätzliche Tiefe und verorten es im breiteren Diskurs der Ethik, Theologie und Gesellschaft.
Ich lass dich nicht allein ist ein leises, aber kraftvolles Plädoyer für eine Kultur des Lebens – auch angesichts des Todes. Es ist kein Buch gegen assistierten Suizid im Sinne einer moralischen Anklage, sondern ein Buch für das Leben in Würde – und zwar bis zuletzt. Es fordert dazu auf, sich dem Sterbewunsch eines Menschen nicht reflexhaft zu entziehen, sondern ihn ernst zu nehmen und dabei zugleich andere Wege aufzuzeigen, wie Nähe, Empathie und Hoffnung möglich bleiben können.
Fazit:
Annegret Puttkammers Buch ist eine bedeutsame Stimme in der aktuellen Debatte über assistierten Suizid in Deutschland. Es verbindet persönliche Erfahrung mit theologischer Reflexion und gesellschaftlicher Verantwortung. Für Menschen in Pflege- und Sozialberufen, für Seelsorgerinnen und Seelsorger, aber auch für alle, die sich mit den Themen Lebensende, Sterbewunsch und Menschenwürde beschäftigen, ist dieses Buch eine ebenso kluge wie bewegende Lektüre. Es ruft in Erinnerung, dass kein Mensch – auch in seinem Sterben – allein gelassen werden sollte.
Bewertung: 5 von 5 Sternen
Einfühlsam, fundiert und hochaktuell – ein wegweisendes Buch in einer Zeit, in der das Thema Suizidassistenz zunehmend gesellschaftliche Realität wird.
- Herausgeber : Neukirchener Verlag
- Erscheinungstermin : 4. September 2023
- Auflage : 1.
- Sprache : Deutsch
- Seitenzahl der Print-Ausgabe : 200 Seiten
- ISBN-10 : 3761568975
- ISBN-13 : 978-3761568972
- Abmessungen : 13.5 x 2.2 x 21.6 cm
- 22 Euro